Die letzten beiden Wochen in meiner Schule sind angebrochen. Allmählich geht mein Freiwilligendienst dem Ende entgegen: Noch sieben Arbeitstage. Sieben Tage in der Schule, zehn Tage in meiner Gastfamilie. So schnell kann die Zeit vergehen - immer wieder gehört, nie ganz begriffen. Die vier Monate kommen mir abwechselnd sehr kurz vor (wenn ich überlege, wie schnell sie vergangen sind) oder aber auch sehr lang - wenn ich an meine ersten Wochen zurückdenke und mir klar wird, wie viel sich seither verändert hat. Ich habe unheimlich viele Menschen kennengelernt und mir einen Alltag in Istanbul aufgebaut. In weniger als zwei Wochen wird dieses Alltagsleben enden. Das gute daran: Nach dem vergangenen, beinahe perfekten Wochenende habe ich ein günstiges, passendes Zimmer in Osmanbey (auf der europäischen Seite) sicher. Mein Alltag in Asien endet, meine Zeit in Istanbul aber nicht. Und oben drauf ließ sich im Beat-Club schließlich doch noch mein verschollener Wintelmantel auftreiben. Bei der Gelegenheit habe ich gleich Freundschaft mit der Belegschaft geschlossen und mein Bier spendiert bekommen.
An dieser Stelle nun eine kleine Beschreibung des Alltags, der in naher Zukunft enden wird:
An Dienstagen und Mittwochen habe ich Vormittags um halb zehn Unterricht. Für einen langschlafverwöhnten Studenten mit einem Schlafrhythmus, der ein Einschlafen vor ein Uhr nachts ausschließt, führt dieses unmenschlich frühe Aufstehen dazu, dass ich gewöhnlich im Halbschlaf aus dem Haus taumle und zum Zug renne, weil ich es nicht schaffe, rechtzeitig loszugehen. Im öffentlichen Nachverkehr folgt dann der Quetschzustand, den ich bereits mehrfach beschrieben habe: Viel zu viele Menschen drücken sich in alte Züge, die so überfüllt sind, dass die Türen nicht selten nicht mehr schließen. Das vollbepackte Gefährt rattert dann eine halbe Stunde gen Kadiköy, von wo ich entweder den Metrobus weiter nach Ucuncayir nehme oder aber in Feneryolu austeige und von dort aus zu meiner Schule laufe. Der Schulweg ist so eine Sache für sich: Mittlweile erkennen mich die Kindern, passen mich ab und laufen mir hinterher, indem sie "Teacher, Teacher!" rufen, sich aber weit genug von mir entfernt halten, um kein stockendes Gespräch mit ihrer, der türkischen Sprache nur beschränkt fähigen, Lehrerin führen zu müssen. In der Schule selbst begrüßt mich der Security-Mann, dann meine Kollegen, mit denen ich jeden Morgen aufs Neue die gleiche Konversation führe. Übersetzt ins Deutsche etwa:
"Guten Morgen. Wie gehts?"
"Ganz gut, danke. Und selbst?"
"Auch gut. Das Wetter ist heute schön/ schlecht/ warm/ kalt."
"Ja, sehr schön/ schlecht/ warm/ kalt."
"Hast du schon gefrühstückt?"
Um halb zehn dann beginnt der Unterricht, mehr oder weniger pünktlich. Ich muss meist spontan entscheiden, was ich mit den Kindern arbeite. Generell kann ich davon ausgehen, dass sie keinen Schimmer haben, was ich ihnen in der letzten Stunde versucht habe, beizubringen. Ich beginne nicht an Punkt 0 - aber auch nur knapp darüber.
Je nach Tagesverfassung ist es mit den Kindern schwierig bis sehr schwierig. Nur um nicht falsch verstanden zu werden: Die Arbeit mit den Kindern ist toll, macht mir Spaß und ich mag meine Schüler. Aber sie sind auch nervtötend, anstregend, lärmend, unaufmerksam und unerzogen. Verglichen mit Schülern in deutschen Klasse (wie ich sie kenne), sind meine Schüler wahre Katastrophen. Nichts hält sie auf ihren Stühlen, wenn sie die Antwort auf eine Frage geben wollen und auch sonst finden sie immer einen Grund mitten in der Stunde durch den Klassenraum zu rennen. Der Geräuschpegel geht beständig gegen 100 Dezibel. Wenn sich nicht mindestens zwei Schüler prügeln, dann ist es kein normaler Schultag.
Besonders beliebt bei den Schülern ist natürlich die Pause, zehn Minuten in jeder Stunde. Sobald allerdings das Wort "Teneffüs"- Pause aus meinem Mund kommt, gibt es für die Kinder kein Halten mehr. Ich kann ihnen noch so oft "Nicht rennen, nicht schreien, nicht prügeln" hinterherrufen - es verhallt in ihrem Geschreische. Pause bedeutet also: Alle anwesenden Kinder preschen kreischend durch das Treppenhaus. Sie mit meinen mangelnden Sprachkenntnissen zurechzuweisen: Schwierig. Sie hinterher wieder ruhig zu bekommen: Aussichtslos. Besonders fasziniert sind die Kinder außerdem von der Tafel, jenem elektronischen Gerät, das mir selbst den einen oder anderen Ausraster bescherrt hat. Wenn es darum geht, nach vorne zu kommen und mit dem Stift an die Tafel zu schreiben, drehen die Kinder förmlich durch. Sie melden sich auch wenn sie keine Ahnung haben, nur um dann auf der Tafel sinnlos vor sich hinzukritzeln, während ich versuche, einen geplanten Unterricht zu gestalten. Was den Unterricht angeht, haben die Kinder ohnehin andere Vorstellungen als ich. Immerhin versuche ich ihnen grundlegende Grammatik und neue Vokabeln nahezubringen. Die Kinder, wie sollte es anderes sein, wollen natürlich nur eines: Spielen. Deshalb ist neben "Wann ist Pause?", "Spielen wir heute?" die meist gestellte Frage.
Zwischendrin gibt es natürlich auch immer wieder Kommunikationsprobleme. Die Kinder sind dem Trugschluss verfallen, dass ich sie besser verstehen würde, wenn sie lauter sprechen oder durcheinander schreien. Das ist nicht der Fall. Meistens reagiere ich dann mit: "Ist deine Frage denn wichtig?", was zugegeben, kein Kind wirklich objektiv beantworten könnte. Mich mitten im Unterricht zu fragen, ob ich die Schlümpfe kenne, war für die Kinder so wichtig, dass eine ganze Traube um mich herumstandund auf mich einbrüllte. Überhaupt: Wenn gar nichts mehr geht, dann muss Burak als Übersetzer ran. So auch heute, als eines der Kinder von ihm wissen wollte, was denn "Mensch" heißen würde. Konnte Burak natürlich auch nicht beantworten, denn er spricht kein Wort Deutsch. Als die Kinder es wiederholten, begriff ich es schließlich: In einem besonders anstregenden Moment hatte ich laut "Oooch, Mensch" gestöhnt. Ein typischer Auspruch für mich. Und dann war bei den Kindern hängen geblieben. Oooch Mensch!
Der Unterricht geht bis fünf Uhr. Anschließend fährt mich mein Kollege Burak mit dem Auto zu meiner Zughaltstelle, während mein Chef neben ihm auf dem Beifahrersitz sitzt und versucht mit mir Türkisch zu reden. Anfangs war das ein hoffnungsloses Unterfangen, mittlerweile klappt es schon einigermaßen. Was folgt, ähnelt dem Hinweg: ich quetsche mich in den Zug, quetsche mich raus, laufe nach Hause.