Direkt neben dem Istanbul Modern, Istanbuls Museum für Moderne Kunst, befindet sich eine neue Dauerausstellung mit dem Titel „Van Gogh Alive“. Bei meinem Besuch,gemeinsam mit Andrea, haben wir uns nicht mit der Ausstellungsbeschreibung aufgehalten, uns Karten gekauft und die Ausstellung besucht, in der Erwartung vorzufinden, was man gewöhnlich in einer Kunstausstellung vorfindet: Malereien, Plastiken, Installationen. „Van Gogh Alive“ allerdings kommt ohne die Präsentation eines einzigen Originals aus. Entsprechend groß war unsere Überraschung als wir einen großen, abgedunkelten Saal betrachten, an dessen Seitenwänden großflächige Leinwände angebracht waren, auf die Van Goghs Werke projiziert wurden. Unterlegt wurde die Darstellung von dramatischer klassischer Musik. Bei unserem Eintreten fächerte sich an der Wand neben mir eine Waldlandschaft auf, Van Goghs Werk auf 3 Mal 3 Metern. Dennoch war unser erster Gedanke: Das ist alles? Keine Malereien, keine Originale, nur große Bildprojektionen?
Wir ließen uns darauf ein, setzten uns in eine Ecke und ließen die Bilder zu uns kommen. Nach einer Weile tauchten wir ein in das Konzept. Die Ausstellung reist durch Van Goghs Lebenswerk, präsentiert seine 10jährige Schaffenszeit mit der thematischen Anordnung seiner bekanntesten Werke. Es beginnt mit seinen Selbstportraits, die plötzlich von allen Seites des Saals auf den Betrachter zurückblicken. Die Malereien sind dabei nicht bloß abfotografiert: Sie sind zurechtgeschnitten, rangezoomt. Interessante Ausschnitte stehen neben ganzen Kompositionen.
Die Kuratoren der Ausstellung bezeichnen die einzelnen Etappen der Präsentation als „Movements“, als Bewegungen. Der erste Abschnitt präsentiert Van Goghs frühe Schaffensphase. Zu sehen sind Landschaften seines Heimatlandes, den Niederlanden: In Erdtönen gehalten breiten sich Bauerdörfer und Äcker auf den Leinwänden auf. Es folgen seine Werke aus seinem Aufenthalt in Paris, dann ruckelt eine animierte Eisenbahn durch eine seiner Skizzen und ein „Movement“ präsentiert seine Arbeiten aus Südfrankreich. Seine Sonnenblumen bekommen einen eigenen Abschnitt, ebenso Van Goghs düstere, späte Lebensphase in der er mit Depressionen und Nervenkrankheiten zu kämpfen hatte. Das letzte „Movement“ endet dramatisch, mit Van Goghs wahrscheinlich letztem Bild. „Weizenfeld mit Raben“ zeigt einen reifen Acker mit einem schweren dunklen Himmel. Das Bild breitet sich auf alle Leinwände auf, plötzlich ist ein Schuss zu hören und die schwarzen Raben erheben sich aus ihrer Starre und flattern wild gen Zuschauer. Das Finale ist eine Anspielung auf Van Goghs Tod. Dieser hatte sich auf dem Acker hinter seinem Haus selbst angeschossen und starb drei Tage später in den Armen seines Bruders Theo. Ebenjener hatte Vicent Zeit seines Lebens finanziell unterstützt, denn, das ist eine weitere Wahrheit aus Van Goghs dramatischen, traurigem Leben: In den 10 Jahren seiner künstlerischen Schaffenszeit hat er mehr als 2000 Werke geschaffen, doch konnte er nur ein einziges von ihnen verkaufen.
Andrea und ich vor "Sternennacht" |
Die Ausstellung ist eine neue Form Kunst zu erleben. Sie ist neu und intensiv, man glaubt sich in einer anderen Welt zu befinden, ähnlichem jenem Zustand, in dem man sich in einem Kinosaal während eines besonders gutem Film befindet, in dem man sich verlieren kann. Hinterher erwacht man in die wirkliche Welt, überrascht, sie nie verlassen zu haben.
Die Präsentation ist gewaltig und mitreißend: Mal blickt man auf eine graue, gar triste Ackerlandschaft, dann wieder erstrecken Blumen in kraftvollen Farben über alle Seiten des Saals. Die Bilder sind animiert: Eine Windmühle reißt den Acker aus seiner Starre, plötzlich drehen sich ihre Räder. Sein berühmter Nachthimmel in „Sternennacht“ öffnet sich erst langsam. Zunächst ist über dem nächtlichen Dorf nur ein schwarzer Fleck zu sehen, ehe sich seine markanten Kreisel auf dem Nachthimmel ausbreiten. Das alles ist kombiniert mit einer wechselhaften, beeindruckenden Klangkomposition, die den Kunstgenuss um einen Sinn erweitert.
„Van Gogh Alive“ ist Kunstaufbereitung für die Mediengeneration. Seine Malereien sind nicht mehr stille, beeindruckende Exempel der Kunstgeschichte. Sie sind eingebettet in eine Präsentation des Lebenswerks des bedeutenden Künstlers. Die Ausstellung ermöglicht es, seine Werke neu kennenzulernen. Bleibt nur die Frage: Wird eine gewöhnliche Kunstausstellung von nun an überflüssig? Wer braucht schon Originale, wenn moderne Techniken die Bilder gestochen scharf auf meterhohe Wände projizieren können?
Sicher ist: Mit dieser Form der Darstellung lässt sich eine breitere Masse erreichen. Vielleicht sollte man sie als eine intensive Licht- und Toninstallation verstehen, weniger als Malereiaustellng. Für einen Kunstliebhaber, kann sie die Oiginale nicht ersetzen, denn trotz beeindruckender Schärfe, kann sie die Malereien nicht in all ihrer Fülle wiedergeben. Den Pinselstrich und Farbauftrag zu bewundern, ist bei einer Fotografie unmöglich, es bleibt die Reduktion auf die Bildsprache und Farbkompostion.
Trotzdem: Eine ungemein faszinierende Ausstellung im Herzen Istanbuls.