Mitte Januar ist der Winter nun auch in Istanbul angekommen. Die Temperaturen haben den Gerfierpunkt erreicht und die Istanbuler durften sich über Schnee freuen. Zwar ist auch Bremen keine schneeverwöhnte Stadt (wahrscheinlicher als Schnee ist meist Graupel, jene unschöne Kreuzung von Schnee und Regen, bei der statt weißen Pracht nur grauer Matsch den Boden erreicht), in Istanbul schneit es aber noch seltener. Manchmal nur einmal im kurzen Winter, in einigen Jahren überhaupt nicht. Dementsprechend irrational ist das Verhalten der Menschen, die ihre Freude über Schneeflöckchen-Weißröckchen kaum verbergen können. Die Kinder kratzen bereits die ersten dünnen Schichten von den Autos, die nicht sofort weggeschmelzen und holen zu ausgiebigen Schneeballschlachten aus (als Ergebnis, fing mein Gastbruder sich eine gehörige Erkältung ein). Von einem Schneesturm ließ sich am letzten Montag indes nicht sprechen. Aufgerundet kamen vielleicht zwei Zentimeter Schnee vom Himmel - und trotzdem brach der Verkehr zusammen, was einerseits einiges über das häufig erwähnte Verkehrsproblem in dieser Stadt aussagt, andererseits aber auch über die Anfälligkeit der Verkehrsführung, bei atypischer Wetterlage. Wie auch bei Regenwetter, verwandelt sich bei niedrigen Temperaturen mein Schulweg in einen Spießrutenlauf: Geräumte Straßen gibt es kaum; Fußgängerwege verwandeln sich in Eisflächen. Als Ergebnis habe ich mich bisher mehr als einmal dramatisch auf die Nase gelegt.
Als Burak mich bei leichtem Schneeregen zu meinem Abendkurs fuhr, bemerkte er leicht enttäuscht: "Dich kann der Schnee scheinbar überhaupt nicht beeindrucken." Wahrscheinlich erwartete er von mir, dass ich ihm als Antwort von der Schneepracht im deutschen Lande erzähle. Stattdessen antwortete ich wahrheitsgemäß: Kaltes Wetter, Schnee und Eis, generell der Winter mit seiner unfreundlichen Metereologie treffen bei mir generell auf Ablehung. Bisher ließ es sich in Istanbul gut überwintern: Mildes Wetter, mit viel Sonne. Häufig rund zehn Grad wärmer als in Bremen. Auf den Kälteeinbruch hätte ich deshalb gut verzichten können.
Es ist ausgerechnet dieses Wetter, das sich meine Mutter und Großmutter für einen Besuch in Istanbul ausgesucht haben. Und sie haben mit großem Geschick ausgerechnet die kälteste Woche des Jahres abgepasst. Nun kann meine Oma nicht mehr gut laufen und muss im Rollstuhl geschoben werden. Das ist auch bei gutem Wetter eine Angelegenheit für sich, denn man kann über Istanbul einiges sagen, doch behindertengerecht ist die Stadt definitiv nicht. Meine Gastmutter stellte einmal trocken fest: Behinderte Menschen bleiben in dieser Stadt in ihren Wohnungen. Rausgehen können sie jedenfalls nicht allein.
Alten und behinderten Menschen, aber auch allen anderen mit einer körperlichen Beeinträchtigung, macht Istanbul das Leben schwer. Die Fußgängerwege sind uneben, mit großen Löchern und hohen Kantsteinen. Oder sie sind schmal mit holprigen Pflastersteinen. Istanbuls Straßen erinnern nicht selten an Berg- und Talfahrten, so steil sind die Abhänge. Wenn ich daran denke, die oft ich außer Atem bin, weil ich wiedereinmal über eine Straßen rennen, eine mörderische Treppe erklimmen oder während der Fahrt aus einem Minibus springen musste - dann wundere ich mich, wie diese Menschen in Istanbul überhaupt zurecht kommen.
Die Istanbuler meinen es immerhin gut und bemühen sich, um einen Ausbau der Barrierenfreiheit. Es gibt Türen für Rollstühle und Rampen. Immerhin war der Eintritt in den Topkapi Palast (dem gut erhaltenen Sultanspalast im Herzen der Altstadt) für meine Großmutter und meine Mutter als Begleitung umsonst. Dennoch: Die Rampen im Inneren des Palastes waren rar, steil, die Türen zu schmal und die meisten Räume begrüßten uns mit einer hohen Stufe an der Eingangstür. Der ganze Besuch wurde für uns drei zu einer schweißtreibenden Angelegenheit.
Es ist trotzdem schön, die beiden hier zu haben und mit genügend Zeit, lässt sich jedes Problem lösen. Also steht meine Großmutter auf und läuft mit kleinen, langsamen Schritten - aber sich trotzig weigernd aufzugeben - einen 500 Meter Berg hinauf. Manchmal muss sie eine kleine Stufe nehmen und sofort kommen von allen Seiten Türken hergeeilt, die sie "Teyze"-Tante nennen (familiäre Bezeichnungen gegenüber Fremden sind sehr gängig und sollen freundliche Nähe vermitteln) und ihr helfen wollen. Hilfreiche Hände halten ihre Arme oder hieven den Rollstuhl über eine Stufe und meine Oma freut sich und sagt immer wieder "Danke, danke".
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