Mein liebstes Istanbuler Wahrezeichen ist nicht die pompöse Hagia Sofia, jenes wunderschöne, aber gigantische Gebäude in Sultanahmet, das im Laufe seines Bestehens erst Kirche, dann Moschee war (je nach Wunsch des jeweiligen Herrschers) und heute als Museum jährlich seinen Besuchern eine einmalige Symbiose beider Religionen darbietet. Auch nicht die Blaue Moschee, die eigentlich nicht besonders blau ist, sondern vielmehr rot. Beide Gebäude sind wunderschön anzusehen, liegen direkt nebeneinander im Touristenviertel Sultanahmet und sind besonders nachts, wunderschön beleuchtet, ein absoluter Blickfang. Mein liebstes Istanbuler Wahrzeichen sind auch nicht die Bazare, auch wenn man bei Istanbul beinahe unwillkürlich das Bild exotischer Gewürzbasare und das reiche Angebot von aufwändigen Stoffen, Tüchern, bemalten Schalen und bunten Glaslampen vor Augen hat.
Ich liebe den Kiz Kulesi, den Mädchenturm (in Europa wird er Leanderturm genannt). Er ist weniger pompös, beinahe unscheinbar: Ein kleiner Turm im Bosporus, nahe dem asiatischen Stadtteil Üsküdar. Im Laufe der Zeit hatte er verschiedene Funktionen, wurde als Leuchtturm, Quarantänestation, Zollhaus, Gefängnis und Alterssitz für Seeoffiziere genutzt. Heute lässt sich in seinem Erdgeschoss ein schmuckes Restaurant und in seiner runden Kuppel ein Café finden - in dem für türkische Verhätlnisse durchaus anständiger Kaffee serviert wird (!).
Mädchenturm wird er aufgrund einer Legende genannt: Einem König wurde einst gewahrsagt, seine geliebte Tochter würde vergiftet werden und sterben. Um ihren Tod zu verhindern, sperrte er sie in den Turm. Eines Tages wurde der Königstochter ein Korb mit Obst gebracht, in dem sich eine Schlange verbarg. Die Schlange biss das Mädchen - und diese starb. Zugegeben: Die Geschichte ist schnell erzählt und die Gebrüder Grimm haben definitiv ein besseres Gespür für einen ausgefeilten Spannungsbogen bewiesen. Aber auch die Geschichte hinter dem zweiten Namen, dem in Europa geläufigen "Leanderturm", kann nicht unbedingt mit dramaturigischem Genie aufwarten. Immerhin kommt aber etwas dramatischer daher: Die Sage geht auf eine antiken Überlieferung zurück, nach der Leander jede Nacht den Fluss durchschwamm, um zu seiner geliebten Hero zu gelangen. Als eines Nachts die Fackel, die ihm den Weg zeigen sollte, erlosch, verlor Leander die Orientierung und ertrank in den Fluten. Als Hero ihren toten Geliebten am Ufer fand, warf sie sich ebenfalls in den Fluss.
Nachdem ich den kleinen Turm nun drei Monate aus der Ferne bewunderte, habe ich endlich die Zeit gefunden, ihn zu besichtigen. Ich kann nicht einmal genau sagen, weshalb er mich so fasziniert. Er ist hübsch anzusehen, kann mit Istanbuls eindrucksvollen historischen Gebäuden in Punkto architektonischer Raffinesse aber nicht konkurrieren. Doch wie er so ruhig daliegt, zwischen den Kontinenten, im Wasser des Bosporus, der Lebensader der Riesenstadt, strahlt er auf mich eine undefinierbare Anziehung aus. Insbesondere nachts, wenn er beleuchtet wird und sich in seinem Rücken die schier unendliche Stadt als ein Teppich funkelnder Lichter über die Berge legt, mit dem schwarzen Band des Bosporus zu seinen Füßen.
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