Sonntag, 18. Dezember 2011

Aufgeräumtes Altersheim

 Wochenenden in Istanbul bleiben niemals ruhig. Freitagabend noch habe ich mich kurzfristig zum Einkaufen am Samstag verabredete und steuerte einem ansonsten ruhigen Wochenende entgegen. Mein Einkaufsbummel mit Andrea zog sich dann allerdings hin - auf der europäischen, dann auf der asiatischen Seite, die wir als Geheimtipp entdeckten: Touristenfrei, günstig, bunt und aufregend. Und während ich noch zu Andrea meinte, wie merkwürdig es wäre, in dieser Atmopshäre Weihnachtsgeschenke zu kaufen, standen wir schon vor einem kleinen Geschäft, das überquoll von Weihnachts-Bling-Bling und tanzenden Weihnachtsmännern. Tatsache ist nämlich, dass Türken Weihnachten feiern - allerdings an Neujahr. Und es scheint auch nicht viel an unser Weihnachten zu erinnern - keine der üblichen Bräuche, keine Geschenke. Aber die volle Ladung an Dekoration. Seit heute steht im Wohnzimmer meiner Gasteltern ein zwei Meter hoher, blinkender Plastikweihnachtsbaum, der nach ihren Angaben bis März dort stehen bleibt, weil ihn alle so hübsch finden.
Im Anschluss wollten wir auf die europäische Seite zurück, die hohen Wellen auf dem Bospurus führten allerdings dazu, dass wir von der Fähre auf ein Taxi umsteigen mussten. In der folgenden halben Stunde sahen wir dank der Fahrweise des Taxifahrers unser Leben an uns vorbeiziehen. Der Anschnallgurt war natürlich funktionsuntauglich. Im Anschluss an die Fahrt grinste er uns dreckig an - weil ihm nicht entgangen war, wie wir auf seine halbsbrecherischen Manöver reagiert hatten.
Nach einem kurzen Abendessen im Gehen, bei dem ich Cig-Köfte für mich entdeckte (rohes Lammfleisch mit Tomaten und Kräutern, zusammen mit Salat in Teig eingewickelt), gesellten wir uns zu Andreas "Lieblingsnachbarn". Eine koreanische Mitstudentin namens Sienna hatte Geburtstag und weil die Gäste aus Frankreich, Italien, Südkorea und Deutschland kamen wurde ihr Geburtstagslied fünfsprachig vorgetragen. Anschließend besuchten wir die Studentenparty im Istanbul Live in Taksim.

Während der Fahrt mit dem Metrobus am Samstag habe ich mich mit einem türkischen Mädchen unterhalten, das in Deutschland aufgewachsen und dann in die Türkei zurückgekehrt ist. Als ich sie fragte, welches Land sie lieber mögen würde, deutete sie nur aus dem Fenster und meinte: "Sie es dir an. Ich bin so froh wieder in der Türkei zu sein." Tatsächlich kehren mehr Türken in die Türkei zurück, als von der Türkei Richtung Deutschland emigrieren. Und das nicht ohne Grund: Die türkische Wirtschaft boomt und kann eine Wachstumsrate um 10% vorweisen. Deutschtürken haben in der Türkei häufig sehr viel bessere Zukunftsperspektiven als in Deutschland.
Andrea kehrt in dieser Woche nach 4 1/2 Monaten über Weihnachten nach Bremen zurück und sagt selbst, sie wäre aufgeregter, als vor dem Hinflug. Wie wird sich Deutschland in ihren Augen verändert haben? 
Ich habe heute den Kommentar einer in der Türkei lebenden Deutschen gelesen: Neben der Türkei wirke Deutschland wie ein aufgeräumtes Altersheim. Ich fürchte, sie hat damit nicht ganz unrecht.

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