Mittwoch, 30. November 2011

Kleine Unterschiede

Ich bin nun einen Monat in der Türkei. Nachdem die ersten Tage noch in einem mäßigen Tempo vergingen, beginnt die Zeit allmählich zu rennen. Die Tage ziehen dahin, werden zu Wochen. Ich fürchte, die 140 Tage werden schneller vergehen, als ich erwartet hatte...
Zeit also von ein paar Kleinigkeiten zu berichten, die das Lebenin Istanbul so mit sich bringt..

Es gibt Momente, in denen ich einfach vergesse, dass ich in Istanbul bin, einfach weil es Orte in dieser Stadt gibt, die sich in keiner Weise von deutschen Innenstädten unterscheiden. Ich rede dabei nicht nur von den Innenräumen einschlägiger Fast Food-Ketten, deren Einrichtung rund um den Globus die Gleiche ist. In der U-Bahn beispielsweise lässt sich nicht unterscheiden, ob man sich gerade in Hamburg oder Istanbul befindet. Und wann immer ich gemeinsam mit meinen Gastfamilien deren Freunde besucht habe, ließen sich in deren Wohnungen Ikea-Möbel und Dekorationen wiederfinden, gleich wie in Deutschland. Dann aber wiederrum muss ich nur einen Blick auf die Straße hinauswerfen und die Unterschiede springen mir ins Auge. Auf Istanbuls Straßen ist es laut und immer sind viele Menschen, meist zu viele Menschen unterwegs. Deutschland wirkt dagegen aufgeräumt, beinahe steril. Türkische Geschäfte sparen auch nicht an großformatigen Werbeschildern. Die Innenstädte sind gesprenkelt von all den Plakaten und Schildern, Bussen, Taxis und Passanten.
Seinen Weg zu finden bedeutet auch immer: Irgendwie über eine vielbefahrene Straße zu rennen, während die Ampel den Dienst verweigert und die Autos nicht langsamer werden. Es bedeutet, sich an Passanten vorbeizuquetschen und auf einem Fußgängerweg voller Stolperfallen die Augen offen zu halten. Es bedeutet, an jeder Straßenecke einen anderen Duft in der Nase zu haben, weil immer irgendwo Esskastanien gebraten, Poppcorn gemacht oder Simit verkauft wird - und wenn nicht, dann weht einem der Duft aus dem nächsten Straßenlokal in die Nase.

Jeden Tag schallt der Ruf des Muezzins über die Hausdächer der Stadt. Egal wo in der Stadt man sich gerade befindet, immer ist eine Moschee nahe genug, um seinen Ruf zu hören. Wenn man sich gerade wundert, ihn heute noch gar nicht gehört zu haben - hallt schon sein Gesang von den Hauswänden wieder. Überhaupt Musik: Eine Weile habe ich bei offenem Fenster immer wieder eine Melodie hören können, die mich auf befremdliche Weise an das Thema der Harry Potter-Reihe erinnert hat. Es hat eine Weile gedauert, bis mir aufging, dass es sich um die Pausenglocke der naheliegenden Schule handelt. Statt eines monotönen Bimmels werden die Schulkinder von einer nettem Melodie an das Ende der Pause erinnert. Ähnliches lässt sich beim Metrobus beobachten: Wenn die Türen schließen, dann nicht mit einem Piepen, sondern begleitet von Beethovens "Für Elise" - nur in doppelter Geschwindigkeit.
Ich habe heute ein sehr interessantes Format mit Geschichten rund um Istanbul entdeckt. Orient Express heißt die Sendung. Unbedingt mal reinschauen!
http://www.tagesschau.de/videoblog/orient_express/index.html


Mehr kleine Dinge berichte ich morgen!

Dienstag, 29. November 2011

Danke Omi!


Nach den sehr traumhaften letzten vier Wochen habe ich mit böser Vorahnung auf den Tag gewartet, der mir meinen ersten Nervenzusammenbruch beschert. Ein typischer „Wär ich doch im Bett geblieben“-Tag, nur eben auf Türkisch. Ich kann behaupten: Dieser Tag war heute. Und er hat mit allem aufgewartet, worauf man lieber verzichten möchte.
Der Überfülltheitsgrad des 8:02 Uhr-Zugs erinnerte an Tokioter-Verhältnisse – eine Stadt, deren Bahnen typischerweise so überfüllt sind, dass Menschen dafür bezahlt werden, die Insassen in die Bahnen zu quetschen. Habe mich mehr denn je wie eine Sardine in der Dose gefühlt.
In der Schule wartete bereits die Fotografin der Kadiköy Gazette auf mich, die mich an einem denkbar ungünstigen Moment erwischte und eine Reihe unvorteilhafter Bilder geknipst haben dürfte. Es folgten zwei anstrengende Unterrichtsstunden mit aufgredrehten Kindern – zum ersten Mal ohne Burak als Übersetzer, was die Kinder dazu ermunterte, zu tun, als wüssten sie nicht, was ich von ihnen verlange, selbst wenn ich es in geraden Sätzen ausdrücken konnte. Schlussendlich liefen alle wild durcheinander, während ich versuchte ihnen die englischen Ausdrücke für allerlei verschiedene Früchtchen beizubringen.
Nach der letzten Stunde schließlich stattete ich den lieben Vodafone Mitarbeitern einen weiteren Besuch ab. Sie erkannten mich tatsächlich wieder. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb der einzige Mitarbeiter, der einigermaßen in der Lage war, Englisch zu sprechen, fluchtartig in den Pausenraum flüchtete, anstatt mir bei der Klärung meines Problems zu helfen. Ganz nach dem Motto: „Die verrückte Deutsche ist wieder da – Ich mach mal Pause!“ Eine Stunde mühsamen Übersetzens später war dann klar: Mein deutsches Handy bleibt weiterhin ungenutzt. Da Hidir meine türkische SIM-Card auf seinen Namen gekauft hat, kann ich mein Handy nur registrieren, wenn ich eine weitere SIM-Card auf meinen Namen kaufe. Diese Frage hatte ich übrigens genauso schon einige Male gestellt – und gegenteilige Antworten bekommen.
Genau der richtige Tag also für eine Extraportion Nervenfutter, sprich: Schokolade. Als hätte sie es geahnt, traf heute das verfrühte Weihnachtspaket meiner Großmutter ein (Danke Omi!). Gut verpackt befanden sich darin Weihnachtssüßkram und Kaffee. Aber wie das an solchen Tagen eben ist: Selbst gut gemeinte Dinge gehen daneben. Und auf die Deutsche Post ist sowieso kein Verlass. Statt eine gut erhaltene Dosen Kaffee auszupacken, rieselte das süße Pulver beim Öffnen in dicken Rinnsalen aus dem Päckchen und blieb überall kleben: Auf der Couch, auf dem Boden, an mir. Wer also in Zukunft plant, mir ein Päckchen in die Türkei zu schicken, der nehme bitte Abstand von Dosen mit Kaffeepulver. Ansonsten werde ich mir bald eine neue Gastfamilie suchen oder die Couch ersetzen müssen – oder beides ;)

Montag, 28. November 2011

Ich warte - ALLEIN!

Nun also auch die Zeitung. Nach meinem spektakulären Fernsehauftritt soll nun auch ein Bericht in der Kadiköy Gazette über meinen Freiwilligendienst erscheinen. Während ich diese Zeilen schreibe, grübel ich über die Antworten nach, die mir per Mail zugestellt wurden. Einige sind einfach ("Wie alt bist du?"), bei anderen müsste ich länger ausholen ("Vergleiche Türken in Deutschland mit Türken in der Türkei. Welche Unterschiede hast du bisher festgestellt?"). Diesmal wird es immerhin eine Blamage mit Ansage: Der Fotograf soll mich beim Unterrichten ablichten. Da ich immer wie eine Verrückte zwischen den Tischreihen herumspringe und Quizmaster spiele, kann ich das abgedruckte Foto bereits vor mir sehen. Schlagzeile: "Verrückte Deutsche wird auf Kinder losgelassen. Arbeitet immerhin umsonst."

Ich habe heute Kadiköy erkundet. Der eigentliche Plan war, dem Vodafone Shop einen Besuch abzustatten, um dort mein Handy registrieren zu lassen. Dort wurde mir allerdings mitgeteilt, dass ich meinen Reisepass bräuchte und eine Registrierung mit dem Perso nicht möglich sei. Darafhin strengte ich ungefähr eine halbe Stunde lang eine Diskussion mit herrlich entnervten Mitarbeitern an (lustig: Aufgrund mangelnder Englisch-/ Türkischkenntnisse mittels Google Translater auf dem Mitarbeitercomputer), in der Hoffnung, ich würde sie so sehr nerven, dass sie mir meinen Wunsch gewären und die Registrierung vornehmen. Aber egal wie oft ich den netten Menschen in rot-weiß erklärte, dass ich sogar mit meinem Perso eingereist war ("Wenn das geht, wieso dann keine dämliche Regsitrierung?") - sie blieben hart und mein ungeliebtes uralt-Handy weiter in Gebrauch. 
Anschließend ließ ich mich durch die Stadt treiben, ging die Straßen entlang, die mir am interessantesten erschienen, blieb stehen, sah mich um, trödelte durch Geschäfte und aß Simit im Gehen. Hier und da erledigte ich Besorgungen, dann streunerte ich umher, bis ich nicht mehr wusste, wo ich war. Angelockt von der Weihnachtswerbung eines Tschibo-Shops (laut Arife sehr beliebt bei allen Türken), kehrte ich zum Filterkaffeetrinken ein und machte den Verkäufer durch meine Bestellung und die Tatsache, dass ich eine Deutsche bin, so nervös, dass er den kostbaren Filterkaffee über das ganze Tablett verschüttete. Irgendwann landete ich dann am Ufer des Bosparus und meine Stadttour wurde mit einer frischen Meeresbrise und einem strahlend blauen Himmel belohnt. Ich war unübertrieben in Hochstimmung - bis sich ein Türke Mitte 50 neben mich setzte und versuchte, mich auf eine Tasse Cay zu überreden ("Cok güzel - du bist so hübsch!"). Hatte immerhin den Vorteil, dass ich wieder eine neue Vokabel lernte: Ich warte auf eine Freundin. "Yalnız"- ALLEIN!



Impressionen





Stadtbild in Kadiköy


Mittagspause
Gut erkennbar: Die Menschenmasse auf den Straßen, der dichte Busverkehr. Das Ausmaß des ganzes Gewusels kann man aber nur erahnen...

Durch Zufall gefunden: Eine Straße mit niedlichen kleinen Künstlerhäusern, in denen Bilder, Holz-, Näh- und Glasarbeiten sowie handgemachter Schmuck verkauft werden. Wenn man vorbeigeht, kann man durch die Fensterscheiben beim Künstlern zugucken.










Typischer kleiner Kiosk/ Lebensmittelladen wie man ihn fast überall finden kann.


Samstag, 26. November 2011

Lieblingsnachbarn

Auf einmal stand da auf der anderen Seite der Straße Andrea. Nicht wirklich überraschend, denn wir waren verabredet - aber doch ein wenig surreal. Zuletzt hatten wir uns in Bremen gesehen, nun plötzlich wieder in der überfüllten Straße in Osmanbey. Andrea in Istanbul - ein Stück Heimat in der Fremde. Sie macht ein Auslandssemester in Istanbul, ist schon seit fast drei Moanten dort. Nach drei Wochen haben wir es zwischen Univorbereitungen und Freiwilligendienst endlich geschafft, uns zu treffen. Als Erasmusstudentin führt sie ein anderes Leben in der Großstadt - WG statt Gastfamilie, Uni statt Englischunterricht. 
Gemeinsam mit ihren "Lieblingsnachbarn" aus der Etage drunter, zwei Deutsche und zwei Franzosen, haben wir Glühwein getrunken, während die Unterhaltungen in drei Sprachen durch die Luft wabberten. Anschließend fuhren wir weiter nach Taksim und tanzten uns auf einer Erasmusparty durch die Nacht. Eine schöne Abwechslung nach den letzten (partyarmen) Wochen. Dabei habe ich auch gleich eine Schnelleinführung in das Leben von Erasmusstudenten bekommen. Wie leicht und unspektakulär hier verschiedene Nationen zusammenkommen. Die Kommunikation ist via Englisch kein Problem. Mit großem Interesse wird als erstes gefragt - Woher kommst du? Spätestens auf der Tanzfläche sind die Nationen dann aber egal, weil ohnehin alle das gleich wollen: Tanzen und Spaß haben.

Mein Fernsehauftritt ist online zu bewundern. Wie beschrieben lässt sich an meinem Gesicht wunderbar die Verwandlung von rot zu sehr rot beobachten, während ich meine denkwürdigen Worte ins Mikrofon stottere. Viel Spaß damit: http://www.canlidizitr.com/5er-beser-9-bolum-izle-25-kasim-2011.html/4

Donnerstag, 24. November 2011

Hepiy ticir

Heute ist in der Türkei der "Öğretmenler Günü" - der Tag der Leher. An diesem Tag wird den Lehern für ihre Arbeit gedankt. Sich ausgedacht und eingeführt hat das Ganze natürlich wieder Atatürk. Es ist üblich, seinem Lehrer kleine (selbstgebastelte) Geschenke und Blumen zu überreichen. Im Voraus hatte ich die leise Befürchtung, meine ohnehin schon von mir begeisterten Kinder würden mich heute überhaupt nicht in Ruhe lassen. Glücklichweise war die berüchtigte (wie ich sie insgeheim beziffere) Stalker-Klasse - 4B - nicht anwesend. Am Dienstag hatten mich die Kinder bis auf die Toilette verfolgt und versucht mich mit penetrantem Blinzeln und strahlenden braunen Augen zu einem Unterschriftenmarathon zu nötigen. Ich habe einige Zettel mit Liebeserklärungen und Zeichnungen geschenkt bekommen und das Bild rechts mit der schönen Widmung "Hepiy ticir" - "Happy teacher (day)". Außerdem ein Gedicht zum Lehrertag: "A little boy" by Helen Buckley.


Allen einen fröhlichen Lehrertag ;)


Mittwoch, 23. November 2011

Esskultur ade!

Ich bekommen Routine. Darin, mir in einem überfüllten Zugabteil ein Stückchen Raum zu erkämpfen, das mir erlaubt aufrecht zu stehen und dabei nicht eine Vielzahl unterschiedlicher und durchaus unschöner Düfte in der Nase zu haben. Darin rechtzeitig auszusteigen, ohne die Schilder erkennen zu können, die so angebracht sind, dass man sie aus dem Zug heraus kaum entziffern kann (Mein Trick: Aus einem unerfindlichen Grund fällt direkt vor meiner Station immer das Innenlicht im Zug aus. Sobald ich im Dunkeln stehe weiß ich: Aha, jetzt muss ich raus). Darin, den Kinder Englisch beizubringen und zu diesem Zweck nur ein begrenztes Sammerlsorium aus Phrasen beisammen zu haben: Setzt euch hin! Seid ruhig! Wer weiß das? Seid ihr fertig? Darin, die Computertafel zu bedienen, die in regelmäßigen Abständen den Geist aufgibt oder sich gegen meinen Willen selbtsständig macht. Daran in einer unübersichtlichen Stadt zu leben, in der man niemals wirklich allein ist. Ich habe mich an das türkische Essen gewöhnt, daran keinen Filterkaffee zu trinken (Aber nur so halb. Mal ehrlich - Istantkaffee? Istantkaffee?? Warum?). Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich das schnulzige Fernsehprogramm (darüber muss und werde ich mich in einem späteren Blogeintrag auslassen) nicht verstehe und dass ein Großteil der Gespräche um mich herum nicht mehr sind, als ein aufgeregtes Summen. Tatsächlich bin ich so daran gewöhnt, dass sich alle um mich herum unterhalten, ohne dass ich etwas verstehen kann, dass mich mein Besuch in der Marmara Universität heute völlig aus der Bahn geworfen hat. Ich habe Feyyaz besucht, den Sprachpartner von Marie, die ein Jahr in Istanbul gelebt hat. Bei meinem Besuch im Mai hat er uns die Stadt gezeigt. Er studiert auf Deutsch und dass er meine Sprache lernt, wusste ich natürlich schon vor meinem Besuch. Doch auf dem Weg zur Caféteria haben wir seine Freunde getroffen, die mich - als sei es die normalste Sache der Welt - sofort auf Deutsch angesprochen haben. Das sprechen sie nämlich alle - fließend. Einige, weil sie in Deutschland geboren sind, andere, weil sie Deutsch als Fremdsprache lernen. Es hat tatsächlich einen Moment gedauert, bist ich verarbeitet hatte, dass diese Menschen wirklich, richtig, wahrhaftig mit mir kommunzieren konnten und nicht bloß in Wortfetzen und halbrichtiger Englischgrammatik. Ich konnte es mir nicht verkneifen und habe ihr Lehrbuch durchgeblättert. Hat mal jemand darüber nachgedacht, wie schwer es wäre, Deutsch als Fremdsprache zu lernen? 
Beispiel Präpositionen: Türkisch kann so einfach sein! Es gibt nur die Endungen -e/ -a (zum, hin), -de/ -da (im...), und -den/dan (von... weg). Deutsch hingegen ist reich an Präpositionen, Bindewörtern und Unregelmäßigkeiten. Die Türkische Sprache kennt auch keine Artikel. Die deutsche Sprache beglückt gleich mit dreien an der Zahl, deren Zuordnung zu den jeweiligen Nomen vollkommen unverständlich ist. Das Mädchen? Der Schminkspiegel? Die Bohrmaschine?
Das Buch ist dennoch sehr lehrreich. Neben der Grammatik, führen Texte in die deutsche Kultur ein. Neben kleinen Texten über "Heini und Opa beim Angeln" und "Bikulturelle Ehen", lässt sich dort unter dem reißerischen Titel "Esskultur ade!" nachlesen, dass - tja, Deutsche keine Esskultur mehr besitzen. Es wird kaum noch gekocht, stattdessen werden Fertiggerichte gekauft. Mensch, Mensch. Kann den Türken nicht passieren - die besitzen mehr Esskultur als gut für die Figur ist... 

Nebenbei habe ich ein interessantes Gespräch über Türken in Deutschland geführt. Viele Türken reagieren ähnlich wie Deutsche auf meine Entscheidung in die Türkei zu gehen und Türkisch zu lernen, nämlich mit: "Wieso ausgerechnet die Türkei?"
Warum nicht? Ich fürchte leider, es gibt einen ganzen Haufen Missverständnisse zwischen Türken und Deutschen - auf beiden Seiten. Der Junge mit dem ich mich heute unterhalten habe, ist in Köln geboren, dort aufgewachsen, hat die deutsche Staatsbürgerschaft inne. Nach seinem Studium will er in Deutschland leben. Und dennoch weiß er Geschichten zu erzählen, von der Art und Weise, wie ihm in Deutschland Unrecht getan worden ist. Aber er sagt zu mir: Türken haben sich in Deutschland nicht richtig verhalten. Deswegen ist das Verhältnis so angespannt. Eine verworrene Situation. 
Deutschtürken haben in der Türkei übrigens ebenfalls einen Ruf weg. In einer Comedysendung wurde in einem Sketch der typische Deutschtürke folgendermaßen parodisiert: Extrem weite Hose, XXL-Shirt, Cappi in der Stirn und dicke Goldkette um den Hals. Auch Hidir fragte mich in einem Gespräch: "Warum laufen Deutschtürken eigentlich alle wie Gangster rum?"

Montag, 21. November 2011

Willst du Bohnen?

Das erste Wochenende mit meiner neuen Gastfamilie ist zu Ende. Heute bin ich bereits seit einer Woche in meinem neuen Zuhause und gewöhne mich allmählich an das Haus und seine Bewohner. Insbesondere meinen kleinen Bruder Alp Yagis – das Baby – habe ich ins Herz geschlossen. Den Samstagnachmittag haben wir damit verbracht, sämtliche seiner Spielsachen im Haus zu verteilen und komische Grimassen zu schneiden. Schwierig zu sagen, wer von uns beiden alberner ist. Glücklicherweise verstehen wir uns ohne Worte – Quietschlaute und Handbewegungen reichen für unsere tiefgehenden Gespräche.
Am Samstagabend waren wir bowlen. Ein interessanter Kulturmischmasch – „Seaside Bowling“ (weil in direkter Nähe zum Mittelmeer) in Istanbul. Diese Mischung zieht sich durch die ganze Stadt: Große Supermärkte neben kleinen Gemüse- und Obstständen, traditionelle türkische Küche neben McDonalds & Co. Abends blickt man auf das nächtliche Lichtermeer der Riesenstadt, auf eine Ansammlung Wolkenkratzer und blickende Leuchtreklame, während der Gesang des Muezzins durch die Luft schallt, der die Gläubigen zum Gebet ruft. 
Im Bowlen jedenfalls habe ich mir meine aus Deutschland bekannte Form bewahrt – und haushoch gegen meine elfjährigen Gegner verloren. 

 


Seaside Bowling:
Der Junge ist mein Gastbruder Ata, das Mädchen rechts eine Klassenkameradin mit Freundin.







Am Sonntag waren wir zum Essen bei der Schwester meines Gastvaters und deren Familie. Es war das übliche Spiel: Mir wurden unzählige Köstlichkeiten der türkischen Küche auf den Teller gehäuft („Willst du Bohnen? – „Nein.“ – „Hier bitte.“) und mit Adlerblick überwacht, ob ich auch ja alles aufesse. Anschließend konstatierte Timurs Schwester leicht enttäuscht: „Du bist keine besonders gute Esserin.“ Ҫok ayip...

Kein Dreck da!

Montags hat meine Schule geschlossen - ich habe heute meinen freien Tag. Der ursprüngliche Plan war, einen ruhigen Nachmittag mit Türkisch lernen zu verbringen. Ich habe begonnen "Ali ile Aysecik" (Hänsel und Gretel) auf deutsch zu übersetzten - was allerdings sehr langsam vor sich geht. Der Übersetzungvorgang ließe sich mehr als "Oh da ist ein Wort, das ich kenne" denn als "Oh, das Wort kenne ich noch nicht" charaktisieren. Glücklicherweise kenne ich die Story schon, was die ganze Anglegenheit etwas vereinfacht. Die großformatigen Bildern tun ihr Übriges.
Von einem ruhigen Nachmittag lässt sich allerdings nicht sprechen: Eine der Haushälterinnen wuselt immer wieder die Treppe hoch und runter und saugt, putzt, wischt lautstark. Gerade platzte sie in mein Zimmer, um meinen (vollkommen dreckfreien) Fußboden zu putzen. Meine gestammelte Erklärung ("Kein Dreck da") wurde sang und klanglos übergangen. Ich fuhr mit dem Finger über den Fernseher um das nicht Vorhandensein von Staub zu demonstrieren - keine Chance. Also trollte ich mich in die Küche, holte Wasser und wartete bis mein Zimmer geputzt und nach Wischwasser duftend als bezugsfertig freigegeben wurde. Die andere Haushälterin hat den ganzen Morgen über gekocht, bis der Duft nach gefüllter Paprika drei Stochwerke hinauf bis in mein Zimmer gezogen war. All das ließe sich noch ausschließen - wäre da nicht auch noch der Gärtner, draußen dröhnend den Rasen meht und Bäume stutzt...

Freitag, 18. November 2011

Tetris spielen

Ein großer Teil meines Tages besteht in dem Versuch, möglichst ohne Irrungen von Punkt A zu Punkt B zu gelangen. Das bedeutet, den richtigen Bus, Minibus und Zug zu finden und dann auch irgendwie die richtige Haltestelle. Auch an meinem zweiten Tag habe ich mich verfahren, habe den falschen Bus genommen und bin zu früh ausgestiegen. So konnte ich in den Genuss meiner ersten alleinigen Fahrt mit einem Minibus kommen. Wenn sie nicht überfüllt sind, wohnt ihnen eine heimelige Atmosphäre inne. Ein wenig erinnert es an eine urige Fahrgemeinschaft. Sitzplätze gibt es für etwa 20 Menschen. Der Busfahrer ist Kassierer, Fahrer und Infoschalter in einem. Meinen 20-Lira-Schein wechselte er, indem er sich während der Fahrt sein Portemonnaie aus der Jackentasche zog, mit der anderen lenkte, dann die Arme tauschte und mit der rechten Hand mein Kleingeld aus kleinen Schälchen zusammensuchte. Und das im bereits beschriebenen Istanbuler Straßenverkehr. Das ist mal eine Nummer, mit der er sich bei „Das Supertalent“ bewerben sollte.
Durch meinen Umweg musste ich an der Marmara Universität entlang durch eine Wohngegend laufen. Mein Unvermögen, den richtigen Bus zu nehmen, führte dazu, dass ich den freitäglichen Wochenmarkt in der Mektep Straße erleben zu können: Kunstvoll gestapeltes Obst und Gemüse, Tücher, Kleider und Gewürze. Besonders schön war der Gedanke, dass ich im richtigen Istanbul angekommen war. Es war keine Szenerie, wie auf den Fotografien handelsüblicher Reisekataloge, sondern richtig echter Alltag.
Am Abend konnte ich im überfüllten Zug dann wieder die Schwarmbewegungen erkennen, die entstehen, wenn sich immer mehr Menschen in ein bereits überfülltes Gefährt drängen. Die Überlegungen gleichen einem Tetrisspiel: Wie weit kann ich meinen Fuß verlagern, ohne dass ich beim nächsten Fahrmanöver das Gleichgewicht verliere? Ich dachte vorher, dass ich niemals die Halteschlaufen im öffentlichen Nachverkehr benutzen würde. Sie sind für meine (kurzen) Arme zu weit oben angebracht und ohnehin von geringem Nutzen, denn man muss weiterhin kleine Kreise gehen, um nicht umzukippen. In meinem Abendzug habe ich keine andere Wahl mehr, denn Haltestangen sind in dem Gewühl schlicht unerreichbar. Ganz ungefährlich ist die Heimreise außerdem nicht – die Ellenbogen bedeutend längerer Arme schweben auf meiner Gesichtshöhe und nähern sich in Abständen bedrohlich meinem Gesichtsfeld.

Mein Türkisch wird allmählich etwas besser. Auf meiner Arbeit spricht nur Burak Englisch, so dass ich mit allen anderen schwierige Halbsatz-Wort-Gespräche führe. Ebenso mit den Kindern. Burak hat mir die Frage „Darf ich auf Toilette gehen?“ aufgeschrieben. Nachdem mich einige Kinder gefragt und ich sie nicht verstanden hatte, waren sie aus verständlichen Gründen dazu übergegangen, die Frage an Burak zu richten. Ich freue mich darauf, dass mein Türkisch gut genug ist, um den Leuten Fragen zu stellen. Es gibt so vieles, das mich interessieren würde. Noch mit meiner ersten Familie habe ich eine Dokumentation über türkische Immigranten in Deutschland gesehen. Aus dem Gespräch hat sich ein Gespräch mit meiner Gastmutter ergeben, dass ich gerne mit anderen Türken fortsetzen würde.
Damit mein Türkisch besser wird, hat mir Ata seine Lesebücher aus den ersten Schuljahren geliehen. Das türkische Pendant zu „Hänsel und Gretel“ ist übrigens „Ali und Aysecik“.

Donnerstag, 17. November 2011

Drei ist des Bremer Recht

Ich wurde in die Freiheit entlassen. Seit gestern Abend darf ich alleine Bus und Bahn fahren - und mich alleine verlaufen, was ich kräftig tue. Denn auch mit ortskundigen Türken ist es nicht immer einfach, in dieser riesigen, unübersichtlichen Stadt den richtigen Weg zu finden. Es war also vorprogrammiert, dass ich mich verlaufen würde. Dabei konnte ich immerhin mein Sammerlsorium an unverständlicher Stammellei in türkischer Sprache erproben: "Nerede... ääh" - "Wo ist... ääh". Tatsächlich ging schon meine erste Zugfahrt beträchlicht daneben: Eingequetscht in eine Menschentraube, die mit den Haltegriffen "Bäumchen-wechsel-dich" spielte und sich nicht recht entscheiden konnte, ob sie dir nun ihren Arm oder ihre Tasche in die Seite drücken wollte, bekam ich bei der zweiten Haltestelle das diffuse Gefühl, in die falsche Richtung zu fahren, verwechselte die Haltestellen und stieg aus. Gelandet war ich im menschenleeren Nirgendwo. Es dauerte eine Viertelstunde bis der nächste Zug kam, der mich am Hauptbahnhof ausspuckte. Glücklicherweise teilte mir dort jemand mit, dass ich an der Endhaltestelle angekommen war - sonst hätte man mich wohl irgendwann in den Betriebsbahnhof chauffiert. Von dort aus konnte ich mich zum richtigen Zug durchstottern.
Mein Recht auf drei Versuche setzte ich auch heute Morgen durch. Es gibt in Istanbul große Busse, wie man sie von deutschen Straßen kennt (nur etwas älter und überfüllter). Außerdem gibt es private Minibusse - minibüsler. Sie fahren eine feste Strecke, haben aber keine festen Zeiten oder Haltestellen. Ihre Insassen werben sie durch penetrantes Hupen an, aussteigen kann man dann wo man möchte. Außerdem gilt für türkische Busse: Es gibt keine Straße, die man nicht auch mit einem Bus befahren kann. Soll heißen: Ruckelstraße oder Autobahn - der Bus packt das. Anfahren bei 30% Steigung? Der Bus packt das. Gewagte Fahrmanöver bei überfüllten Straßen? Der Bus packt das.
Ich wollte mit einem der Minibüsse fahren, die in hoher Frequenz kommen und gehen, musste mich dann aber durchfragen, weil kein Minubus in Richtung E5 fuhr. Der Mann, den ich ansprach, half mir, den richtigen Bus zu finden, erklärte mir allerdings irgendwann, ich sei an meiner Haltstelle vorbei, müsste aussteigen und mit einem anderen Bus zurückfahren. Das tat ich, landete wer-weiß-wo und versuchte verzweifelt auf meiner Karte den richtigen Weg zu finden. Konnte ich allerdings nicht, denn ich war gut 8 Kilometer zu früh ausgestiegen. Irgendwann sprachen mich zwei Männer an, die mein überfordertes "Diese Straße ist nicht auf der Karte"-Gesicht erkannten und mir erklärten, wohin ich müsste. Auch wenn sie Mühen haben, dich zu verstehen, bemühen sich Türken, einem Fremden weiterzuelfen. Es ist sicherlich auch von Vorteil, ein blondes junges Mädchen zu sein. Die beiden Männer verabschiedeten sich denn auch recht überschwänglich von mir und einer konnte sich nicht verkneifen, mir zu sagen, wie schön meine Augen wären...

Mittwoch, 16. November 2011

Fünfe sollt ihr sein

Alper Kul, der Bruder meiner Gastmutter, ist in der Türkei ein bekannter Fernsehschauspieler. Obwohl ich natürlich herzlich wenig davon verstanden haben, bin ich seiner Einladung gefolgt und gemeinsam mit meinen Gasteltern zur Aufzeichnung seiner aktuellen Comedyshow gekommen. Sie läuft einmal in der Woche, Freitagabend nämlich und heißt "5'er Beşer" - 5er Fünfer. Jede Sendung besteht aus vier längeren Sketchen, in den jeweils (der Name lässt es fast vermuten) 5 Personen auftreten. Alper Kul ist unbeschreiblich witzig, allein seine Mimik und Gestig - und die der anderen Akteure - hat dafür gesorgt, dass ich zeitweise Tränen gelacht habe. Einer der Schauspielern mimt mit Brille und steifen Hemd den Showmaster und reicht am Anfang eines neuen Sketches ein Mikrofon durch das Publikum und stellt dazu Fragen. Ich saß in der ersten Reihe, auf dem ersten Platz und im direkten Blickfeld der Schauspieler - es war also nur eine Frage der Zeit, bis mir jemand ein Mikro unter die Nase halten würde. Als es soweit war, konnte ich nicht einmal die Frage verstehen. Mit der Kamera und den Blicken von 300 Zuschauern auf mich gerichtet, murmelte ich leise ins Mikrofon: "I dont understand turkish." Der Saal hinter mir schmiss sich weg. Meine Gastmutter neben mir ebenfalls und der Talkmaster bekam erst große Augen und stimmte dann ins allgemeine Gelächter ein. Berechtigte Reaktion auf die Tatsache, dass da jemand in der ersten Reihe sitzt, der von der ganzen vierstündigen (!) Veranstaltung kein Wort versteht. Er wiederholte die Frage auf Englisch und fragte dann noch weiter, was ich studieren würde und dann reichte ich das Mikro endlich mit beschämten, hochrotem Kopf an die Assistentin zurück. Obwohl die ganze Aufzeichnung von vier Stunden Material auf etwas mehr als eine Stunde zusammengeschnitten wird, äußerte meine Gastmutter die Vermutung, dass ich mich nächsten Freitag im Abendprogramm sehen könne würde, wie ich vornehm errötet vor mich hinstammle...

Zum Nachgucken
"5'er Beşer": http://www.youtube.com/watch?v=4KZ0_DB5iTw


Alper Kul war bereits im deutschen Fernsehen zu sehen nämlich bei "Mordkommission Istanbul". Ich muss zu meiner Schande gestehen, nie eine Folge davon gesehen zu haben. Im Augenblick werden in Istanbul zwei weite Filme in der Reihe gedreht und der Schauspieler Oscar Ortega Sánchez (spielt laut Wikipedia in den Filmen Mustafa Tombul, den Assistenten von Kommissar Özakın), ein Freund von Alper, war gestern ebenfalls bei der Vorstellung. Wir haben uns eine Weile unterhalten und über unsere Erfahrungen in Istanbul ausgetauscht. Jetzt werde ich mir wohl mal Mordkommission Istanbul anschauen müssen...

Cok Güzel!

Die letzten beiden Tage sind in einem Meer von Eindrücken und Erlebnissen untergegangen. Gestern habe ich  meine Arbeit als Englischlehrerin aufgenommen. Der Anfang hätte allerdings besser sein können: Mein Gastvater hat mich zu meiner ersten Stunde um 09.30Uhr hingefahren - oder es zumindest versucht. Für 6 Kilometer haben wir beeindruckende 1 1/2 Stunden gebraucht, der legendäre E5 sei dank. In einem unübersichtlichen Gewühl von Autos und Bussen war schlicht kein Durchkommen. Es stellt sich dann aber heraus, dass die Schüler samt und sonders nicht gekommen waren, sodass mein Zuspätkommen keine Folgen hatte. Am Nachmittag hatte ich dann zwei weitere Klassen, wobei erstere aus lediglich 3 Jungen bestand. Wir gingen durch den Klassenraum und lernten "Pencil" & Co und anschließend malte ich die Gegenstände an die Tafel und die Jungen spielten mit ihren neu erlenten Vokabeln Montagsmalerei. Zum Ende der Stunde bekam ich von allen der drei Jungen eine Liebeserklärung und einer von ihnen machte die typisch türkische Das-ist-super-lecker/hübsch Handbewegung, bei der alle vier Finger auf den Daumen gedrückt und auf Mundhöhe schnell vor und zurück bewegt werden. Und das mit den Worten "çok güzel"- sehr schön. 
Von der nächsten Klasse bekam ich eine gemeinsame Liebeserklärung und nachdem wir gemeinsam die Klassenraumvokabeln gelernt hatten, musste ich von jedem einzelnen Schüler dessen Arbeitsheft mit meiner Unterschrift signieren. 
Das Unterrichten ist nicht besonders schwierig - mit den Kindern zu sprechen allerdings schon. Burak, ein Kollege, fungiert als Übersetzer, zeitweilig auch als Co-Lehrer. Wir besprechen gegenseitig das Vorgehen und während ich den Unterricht leite, gibt er die Anweisungen an die Kinder weiter. Es ist weniger ein professioneller Unterricht als vielmehr ein Nachmittagsunterricht mit vollem Körpereinsatz der Kinder. Ginge es nach ihnen, bräuchte ich die ganze Stunde nichts anderes tun, als immer neue Wörter einzuführen und reihum nachsprechen zu lassen. Die 3B, zu Beginn der Stunde eine laute und mürrische Runde, geriet an den Höhepunkt der Begeisterung, als ich die neugelernten Farben anhand der Sachen im Klassenraum abfragte. Nacheinander drückten sie mit ihre Stifte, Federmappen, Jacken und Anspitzer in die Hand, damit ich sie nach deren Farbe befragen konnte. 30 Minuten ging das so. Als ich schließlich die Stunde beendete, herrschte allgemeine Enttäuschung. 
Ingesamt habe ich sehr viel Spaß bei der Arbeit. Ich wünschte nur, ich könnte die Kinder besser verstehen und mehr mit ihnen kommunizieren. Nun heißt es: Türkisch lernen!



 Mein Klassenraum

                                  Beim Unterricht

Das obligatorische Bild von Atatürk über der Tafel

              Der Aufenthalts-/ Arbeitsraum












Montag, 14. November 2011

Vier Wände in Dragos

Ich bin nun in meiner zweiten und letzten Gastfamilie angekommen, in der ich für vier Monate bleiben werde. Das (riesige) Haus liegt in Dragos, südlich von Kardiköy und damit eine ganze Ecke von meiner Arbeitsstelle entfernt. Mittlweile haben sich der Großvater meiner Gastgeschwister, mein Gastbruder Ata, meine Gastmutter, sowie mein Gastvater eingehend mit dem Stadtplan von Kardiköy beschäftigt umd die schwierige Frage zu beantworten, wie ich morgen zur Arbeit kommen kann. Bus, Minibus, Zug - der Wettbewerb ist noch nicht entschieden. Außerdem gäbe es noch die Option, dass ich laufe - aber ich denke nicht, dass das ganz ernst gemeint ist.
Der Abschied von meiner ersten Gastfamilie ist mir nicht leicht gefallen. Ich hatte sie bereits sehr in Herz geschlossen - wer weiß ob ich diese nach 4 langen Monaten überhaupt wieder verlassen will? Meine Ankunft im Haus war schön. Tagsüber waren nur die Haushälterinnen im Haus und die Kommunikation hangelte sich von Wort zu Wort, über Halbsatz zum Missverständnis. Dafür unterhielt ich mich eine Weile mit Max, dem Hund, der mir mehr Verständnis entgegenbrachte. Wir haben bereits Freundschaft geschlossen. Ebenso wie ich und meine beiden Gastbrüdern. Der jüngere von ihnen ist vier und unbeschreiblich niedlich. Der ältere ist sehr intelligent und hat mir bereits ein neues Handy besorgt - nach einer Woche fehlerfreier Funktion hat meines plötzlich den Dienst verweigert. Eine kurze Recherche auf Google hat ergeben, dass deutsche Handys mit türkischer Sim-Card aus steuerrechtlichen Gründen nicht funktionieren. Deutsche Bürokratie grüßt aus der Ferne. Jetzt tut es das alte Nokia mit schwarz-weiß Display. Leise werden nostalgische Gefühle wach.

Sonntag, 13. November 2011

Trafik

„Trafik“ - Verkehr, ist die Vokabel für den täglichen Sprachgebrauch. Anders als man (mit Blick auf deutschen Straßenverkehr) vermuten würde heißt „Trafik“ nicht „Es gibt Verkehr“ oder „Es sind Fahrzeuge auf der Straße, die ihre Insassen an einen bestimmten Ort bringen“, sondern vielmehr „Es sind viel, viel, viel zu viele Fahrzeuge auf der Straße und die Insassen wollen irgendwohin und wenn irgendwann wieder Durchkommen ist werden sie vielleicht auch dort ankommen“.
Istanbul wächst: Überall sind Baustellen, ragen unfertige Häuserskelette in den Himmel – und die Einwohnerzahl nimmt beständig zu. In dieser Stadt ist man nie allein, nicht auf der Straße, nicht im öffentlichen Nahverkehr (der häufig so überfüllt ist, dass man sich nicht festhalten muss, weil die körperliche Nähe zu unbekannten Mitinsassen einem eventuellen Umkippen vorbeugt) und schon gar nicht im Straßenverkehr. Sitzt man in einem Auto fällt mit fast hundertprozentiger Sicherheit irgendwann das Wort „Trafik“, dann nämlich wenn sich in Sichtweite eine Autoansammlung ausmachen lässt und man auf zukünftiges stockendes Vorwärtskommen hinweisen möchte. Und das ist meist schon nach wenigen Minuten der Fall.  Dann wird es erst richtig interessant, denn Autofahren in der Türkei unterscheidet sich in seiner Ausprägung leicht von den deutschen Verhältnissen. Das was in der Türkei der Durchschnittfahrer ist, wäre bei uns der Sonntagsraudy, der dank seinen Punkten in Felnsburg ein Fahrverbot nach dem anderen kassiert. Generell geben sie eher wenig auf die penible Einhaltung von Verkehrsregeln: Die Ampel wird auch bei dunkeldunkelorange noch überfahren und aus „Rechts vor Links“ wird „Ich war schneller“. Birol kommt in dem Wirrwarr erstaunlich gut zurecht. Ich bin immer wieder beeindruckt von den Fahrmanövern, mit denen er die Familienkutsche durch den stockenden Abendverkehr bugsiert – auch wenn ich bei dem einen oder anderen Ausweichmanöver lieber die Augen zumache. Taxifahrer legen ein ähnliches Fahrverhalten an den Tag, mit dem Unterschied, dass Sicherheitsgurte in Taxis trotz gewagten Fahrgewohnheiten verpönt sind. Generell genießt diese Vorsichtsmaßnahme nur wenig Unterstützung. Wenn ich mich wie selbstverständlich anschnalle, kassiere ich irritierte Blicke.

Kopftuchmädchen

Dies ist mein letzter Abend in meiner Gastfamilie. Neben mir steht mein gepackter Reiserucksack, den ich mir morgen früh wieder auf den Rücken hieven werde. Als kleiner Abschied war ich mit meiner Gastfamilie in einem traditionellen Restaurant essen, in dem osmanische Küche serviert wird. Der niedrige Tisch bestand aus einer goldenen, reich verzierten, kreisrunden Platte, die wie ein riesiges Tablett aussah. Gesessen wurde auf niedrigen, samtbeschlagenen Hockern. An den Wänden prangten osmanische Verzierungen, während ein historischer Kamin alle Blicke auf sich zog. 
Während des Essens macht Arife mich darauf aufmerksam, dass an den Nebentischen gleich mehrere frisch verheiratete Bräute in weiten Abendkleidern saßen. Sie alle trugen, ebenso wie ihre weiblichen Gäste, Kopftücher. Allerdings in ihrer Feiertagsversion, mit reicher Pailettenverzierung, Strasssteinchen und Stoffblumen. In einigen Gesprächen ist mir bereits aufgefallen, dass meine Familie durchaus religionskritisch ist. Sie sind am Bayram nicht in die Moschee gegangen und haben auch kein Tier geschlachtet. Arife trägt kein Kopftuch, auch sonst keine der Frauen in der großen Familie meiner Gasteltern. Im Gegenteil: Kopftuchtragende Frauen lösen in ihnen Ablehnung aus. Und sie beobachten aktuelle gesellschaftliche Veränderungen kritisch: Der derzeitige Präsident der Türkei, Erdogan, ist der Vorsitzende der AKP Partei, die als islamnah gilt. Arife hat mir erzählt, dass erst vor kurzer Zeit die Alkoholsteuer drastisch erhöht wurde - wohl auch um den Alkoholkonsum zu reduzieren, der laut dem Koran allen Muslimen verboten ist. Die meisten Türken, die ich bisher getroffen habe, äußern sich kritisch gegenüber Erdogan und einer Politik, die sie als religiös geprägt und damit rückschrittlich empfinden. 
Arife äußerte denn auch die Vermutung, dass es sich um Ehen handelt, die von den Familien der Brautpaare arrangiert wurden. Eine Vermutung, die ich mit Blick auf die unglücklichen Gesichter der Mädchen durchaus geteilt habe - wobei Arife mich darauf verwies, dass lächelnde, glückliche Frauen nach konservativen Vorstellung ein schamhaftes Benehmen an den Tag legen. Eine gute Braut lächelt nicht. Eine gute Braut trägt außerdem einen roten Gürtel über dem weißen Brautkleid um damit zu symbolisieren, dass sie als als Jungfrau in die Ehe geht. 

Nach dem Essen sind wir bei stürmischen Wetter auf der Anhöhe neben dem Restaurant entlang gelaufen und haben mit einem Becher Sitap (ein heißes Getränk, dass schmeckt wie flüssiger Vanillepudding) in der Hand die beeindruckende Skyline von Istanbul bewundert. Nachts verwandelt sich das Häusermeer in eine Glitzermeer von Lichtern, dass kein Ende zu nehmen scheint. Istanbul ist einfach unvorstellbar groß - und sehr häufig auch unvorstellbar schön.


Freitag, 11. November 2011

Teacher!

Noch im Halbschlaf und mit einem Rücken, der sich ausdrücklich für die interessante Schlafposition im Nachtzug von Ankara nach Istanbul bedankte (erstaunlich, auf wie viele verschiedene Weisen, man sich auf einem Sitzplatz zusammenrollen kann), lernte ich heute meine Schüler kennen. Die Kommunikation ist nach wie vor schwierig. Ich beherrsche mittlerweile die Begrüßungs- und Abschiedsfloskeln und wenn ich beim Kennenlernen das übliche "Hallo - Wie gehts es dir? - Mir geht es gut und dir? - Danke, mir geht es auch gut. - Schön, dass du da bist. - Ich freue mich, hier zu sein" austausche, dann scheine ich damit falche Hoffnungen bezüglich meiner Sprachfähigkeit zu wecken. Ich musste allerdings nicht unterrichten, sondern wurde nur der Klasse vorgestellt, die mir dann auf Englisch einige Fragen stellte. Anschließend wurde ich in Front der Klasse platziert, um dem Türkischunterricht zu folgen, von dem ich nichts verstand. Beeindruckend war allerdings zu sehen, mit welcher Begeisterung und unter welchem Körpereinsatz die Schüler am Unterricht teilnahmen. Wer seine Antwort geben wollten, den hielt es kaum auf dem Platz. Im Gang stehend und mit starr erhobenen Arm riefen sie immer wieder: "Teacher! Teacher!" Das ist noch beeindruckender, bedenkt man, dass es sich um eine freiwillige Nachmittagsschule handelt. Die Kinder nehmen es wohl nicht in erster Linie als Schule war und haben (deshalb) Spaß daran.
Die Schüler waren ganz aufgeregt, mich kennenzulernen und scharten sich um mich. Ich werde die nächsten drei Tage nutzen, um den Unterrichtsstoff für Dienstag vorzubreiten. Ich freue mich darauf - aber ich bin auch unheimlich nervös, wenn ich daran denke, allein vor dreißig Schülern zu stehen, deren Sprache ich nicht spreche...

Der tote Mann

Gestern war der 73. Todestag des Staatsgründers der Türkei - Mustafa Kemal Atatürk. Jedes Jahr am 10. November wird seiner gedacht und aus diesem Grund pilgern hundertausende Türken zu seiner Grabanlage in Ankara. Dieses Jahr war ich dabei.

Also Dankeschön für ihren Einsatz bei der Organisation von Hilfsgütern für das Erdbebengebiet um Van hat der Chef meiner Gastmutter, der Bürgermeister von Kadiköy, allen freiwlligen Helfern ein Bahnticket nach Ankara spendiert. Ich durfte mitfahren und die Freuden einer achtstündigen Nachtbahnfahrt erkunden: 50 Jugendliche in zwei Bahnabteilen, die in unmöglichen Schlafpositionen versuchen, irgendwie die Nacht hinter sich zu bringen. Für mich war die erste Reise durch die Türkei und ich hatte die Möglichkeit Landschaften außerhalbs Istanbul kennenzulernen. Bei Sonnenaufgang konnte ich eine felsige, karge, fast wüstenartige Landschaft bewundern, gesprengelt mit zerfallenen Hütten, kleinen Dörfern und großen Städten, deren Skyline sich gegen die Morgensonne abzeichneten.  

Am Ausgang des Bahnhofs wurden Buttons mit dem Foto von Atatürk und seiner Lebenszeit 1881-1938 (wobei die 8 gekippt war und das Zeichen für unendlich darstellte) verkauft. Ich dachte: "Den muss ich doch nicht auch tragen oder?"- aber da wurde mir schon ein Button in die Hand gedrückt.
Atatürk hat großartige Leistungen für die Türkei erbracht: Er hat das Land demokratisiert und modernisiert, dabei unter anderem das Sultanat und Kalifat abgeschafft, das lateinische Alphabet eingeführt und die Gleichberechtigung von Mann und Frau gestärkt. Sein Name "Atatürk", der ihm 1934 durch das türkischen Parlament verliehen wurde und einzig von ihm getragen werden darf, zeugt von der Verehrung, die ihm entgegengebracht wird. Er bedeutet "Vater aller Türken". In jedem Laden, jeder Schule, jedem öffentlichen Bebäude und der Mehrheit aller Wohnungen lässt sich ein Foto des Staatsgründers wiederfinden.
Ungeachtet all seiner Leistungen, fällt es mir schwer, den Personenkult um Atatürk nachzuvollziehen. Ich möchte versuchen, möglichst neutral und frei von Sarkasmus über meinen Besuch in Anatkabir (so heißt die Grabanlage Atatürks) zu berichten. Mein mulmiges Bauchgefühl gegenüber Personenkult jeglicher Art, konnte ich ohnehin niemandem so recht begreiflich machen. Ich verwies meine Begleitung auf einen Besuchers, der ganz in Beerdigungkluft gekommen war und passend dazu eine Krawatte mit dem Anltlitz Atatürks trug, was mir ein bisschen übertrieben schien. Mit einer Prise Ironie sagte ich: "Er scheint aber ein großer Fan von Atatürk zu sein", woraufhin meine Gesprächspartnerin entwaffnend aufrichtig erwiderte: "Ich auch. Du denn nicht?" 

Die Grabanlage befindet sich eingebetet in einem großen Park und während Politiker das Grab besuchten, wartete ich gemeinsam mit den übrigen Besuchern in einer rieisgen Menschenmasse vor dem Eingang - 181.000 Menschen kamen gestern nach Anitkabir um Atatürk zu gedenken. Flaggen wurden verteilt, bis jeder einer Din-A4 große Fahne in Nationalfarbe zum Mitweddeln in der Hand hielt. Und dann war es 09.05 Uhr und alles verharrte schweigend still, selbst die Autos auf den Straßen hielten - schwiegen allerdings nicht, sondern hupten laut. Jedes Jahr wird zur Todeszeit Atatürks 5 Minuten geschwiegen. Ich wusste das nicht, doch stimmte ganz automatisch in das Innehalten ein. 
Dann durften wir hinein und liefen eine lange Straße hinauf. Anschließend passierten wir einen kleinen Hof mit steinernden Statuen, die ausladende "Löwenstraße" und kamen zu einem großen Platz, auf dessen linker Seite sich das Mausoleum in den Himmel erhob. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Fahnenmast, deren Natioanlflagge zu Zeichen der Trauer immer auf Halbmast hängt. Aus Lausprechern schall Atatürks Stimme, die bekannte Reden vortrug. Das Mausoleum selbst erinnerte an eine Kirche: Hohe Decken, marmorner Boden und prunkvolle Goldverzierungen. An der Ostseite ist ein großer Sarkopharg gen Mekka gerichtet. Atatürk selbst liegt in einer Grabkammer unter der Erde. An den Wänden sind zwei seiner Reden in Stein gehauen. 
In einem weiteren Gebäude befindet sich ein kleines Museum mit Erinnerungsstücken von Atatürk, Wachsfiguren von ihm und Darstellungen der Kriege, die die Türkei bis zur Staatsgründung gewinnen mussten. 

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Türken eine andere Eintsellung zu Nationalismus haben, als Deutsche. Und die Nationalflagge, sowie die Nationalsymbole Mond und Stern sind aus dem Straßenbild praktisch nicht wegzudenken. Ich denke denn auch, dass sich der 10. November als Nationalfeiertag verstehen lässt, an dem die Türken dem Menschen danken, der die Entstehung der Türkei in seiner jetzigen Form ermöglicht hat. Trotz meinem Unverständnis bin ich mir durchaus der Wichtigkeit des Ereignisses bewusst. Eine Mädchen, mit dem ich zusammen dort war, brach vor Rührung in Tränen aus und am Abend bedankte sich der Kellner im Café dafür, dass ich in Anitkabir gewesen bin und Atatürk besucht habe.

Dienstag, 8. November 2011

Aah, nice smell!

Heute Abend habe ich mein gestriges Versprechen eingelöst und Arife und Bora in das Mysterium der Weihnachtskeksproduktion eingeweiht. Nachdem ich in den vergangenen Tagen die türkische Küche kennenlernen durfte und mir die kompliziertesten Backwaren vorgesetzt wurden, war ich ziemlich überzeugt, dass das fertige Plätzchen Arife nur ein müdes Lächeln entlocken würde. Ihre Begeisterung war allerdings erstaunlich glaubwürdig, dafür dass ich simplen Mürbeteig mehr schlecht als recht mit Schokostreuseln berieselt habe. Dies allerdings unter erschwerten Bedingungen: Da Arife nicht im Besitz einer Waage ist, musste ich die Zutaten schätzchen. Anstelle einer Holzrolle tat eine Glasflasche Raki (die türkische Version des Ouzo, allerdings das Original: Wie mein Gastvater mit erklärte, haben die Griechen das Rezept von den Türken geklaut) gute Dienste und weil der Mixer sich als für deutsche Backwaren ungeeignet erwies, musste ich mit bloßen Händen ran - sei's drum, am Ende kam ein Teigklumpen heraus.
Obwohl Arife Ausstechformen besitzt, war die ganze Prozedur für sie aufregend: Als ich Mehl auf dem Tisch verteilte (damit die Plätzchen nicht am Tisch kleben bleiben), hat sie mich mir gerunzelter Stirn angesehen und gefragt: "What are you doing?" Schlussendlich legte sie die Küchenherrschaft vorübergehend in meine Hände und vertraute auf meine Backfähigkeiten. Die fertigen Kekse aßen wir gemeinsam vor dem Fernseher, zusammen mit der obligatorischen Tasse Cay. Morgen früh sind wir erneut zum Essen (!) eingeladen und die Kekse werden als Mitbringsel ihren Weg auf den türkischen Frühstückstisch finden. Ich bin gespannt, wie sie sich neben der türkischen Küche machen werden.

Montag, 7. November 2011

Küss die Hand!

Gestern hat das viertägige Opferfest begonnen. Ich konnte dabei das Pendant zum Heiligen Abend erleben: Am Festtag küssen die Jüngeren den deutlich Älteren die Hand. Erst wird die Handoberseite geküsst, dann an die Stirn geführt. Diese Geste erweist den Älteren Respekt. Als Dankeschön bekommen die Jüngeren Geld zugesteckt.
Während einer Autofahrt sind mir die großen gelb-orangenen Zeltstädte in der Innenstadt aufgefallen, die wie Notunterkünfte aussehen. Tatsächlich sind es riesige Tierställe: Muslime sind dazu angehalten, am Opferfest ein Tier zu schlachten. Gläubige Muslime investieren daher in eine Kuh oder ein Schaf, das die opfern und dessen Fleich sie dann verteilen. So eine Schlachtkuh kann dabei ganz schön ins Geld gehen – sie kostet so viel wie ein guter Kleinwagen. Seinen Glauben muss man also durchaus mit barem Geld bezahlen ;)
Untypisch im Vergleich mit Weihnachten ist, dass man nach prunkvollem Schmuck vergeblich sucht. Es gibt keinen typischen Festtagsschmuck oder Musik. Mit Blick auf das typische Weihnachts-Bling-Bling wirkt der islamische Feiertag durchaus schlicht - allerdings sei dahingestellt, ob Christen es mit der Weihnachtsdekoration (siehe Stromkosten einzelner Haushalte für Außenbeleuchtung) nicht beizeiten übertreiben...
Arife findet das Weihnachts-Bling-Bling sehr schön. Letztes Jahr hatten sie sogar einen kleinen Plastiktannenbaum. Und morgen werden wir zusammen Weihnachtskekse backen...


Bilder von unserem Ausflug heute:




Auf der Fähre auf dem Weg nach Besiktas, auf der europäischen Seite von Istanbul.










Meine Gastfamilie: Der Gastvater Birol, meine Gastmutter Arife und mein elfjähriger Gastbruder Bora.








Dieses Bild entstand auf dem Markt in Kardiköy: Frischer Fisch und Gemüsestände, Händler, die laustark ihre Waren anpreisen und Gastwirte, die dich überzeugen wollen, in ihrem Restaurant zu essen - alles zusammen eine irre Atmosphäre!!

Sonntag, 6. November 2011

Flugangst ade!

Zehn Stunden, drei Familien, etwa dreißig neue Gesichter und jede Menge türkisches Essen - das ist die Bilanz des Tages. Zusammenfassend lässt sich sagen: Es ist definitiv möglich, einen familienlastigen Feiertag mit einem Wortschatz von kaum dreißig Vokabeln hinter sich zu bringen.

Zunächst haben wir die Familie von meiner Gastmutter Arife besucht. Dort wurde es dann schnell eng, denn Arifes drei Brüder und Schwester, samt Ehemännern/- frauen sammelten sich auf etwa 16 Quadratmetern. Gegessen wurde in Schichten. Beim Kennenlernen nahm mich Arifes Mutter gleich zwei Mal in den Arm und wollte mich gar nicht mehr loslassen. Sie war so glücklich, dass sie mich die ganze Zeit über anstrahlte und in Tränen ausbrach, weil sie dachte, meine Mutter sei tot. Es ist in der Türkei nämlich üblich, zuhause zu wohnen, bis man heiratet und wann immer ich erzähle, dass ich mit 19 ausgezogen bin, bekommen alle Türken große Augen. Arifes Mutter ging also selbstverständlich davon aus, ich sei eine Vollwaise, weil ich nicht mehr bei meinen Eltern lebe. Dann bot sie mir an, auf ihrer Couch zu wohnen (sobald ich genug türkisch kann, um mit ihr zu sprechen) und diese Einladung bekam ich im Laufe des Tages etwa sechs Mal - nämlich von allen Geschwistern und Freunden. Gastfreundlichkeit wird groß geschrieben in der Türkei.
Anschließend las Arifes Bruder aus dem Kaffeesatz meines Türkischen Kaffees (schmeckt wie Espresso mit sehr viel Zucker) und prophezeite mir den vollkommenen Verlust meiner Flugangst und dass drei Menschen mir eine Nachricht überbringen werden. Und dass ich irgendwo sein werde, wo viele Mengen sind. Last but not least wird mein Wunsch in Erfüllung gehen (den ich mir vorher im Stillen überlegen musste) und wenn er das tut, dann soll ich ihm ein Geschenk machen. Schokolade wäre ok.

Die nächste Station war bei guten Freunden meiner Gastfamilie. Wir saßen zusammen, aßen (natürlich) und mir wurde wieder angeboten, zu bleiben.

Spät am Abend besuchten wir die Familie von Birol, meinem Gastvater. Er ist das jüngste Kind, mit vier älteren Schwestern. Daher auch sein Name: Birol - erster Sohn. Erneut saßen viele, viele Menschen in einem kleinen Wohnzimmer und redeten. Als begierigster Türkischlehrer erwies sich dabei der fünfjährige Ferhol, der mit mir Seite für Seite seine Kinderbücher durchging: "Biiiiiiiiier elma!" (Ein Apfel) und mich dann auffordernd ansah, damit ich es wiederholte. Nach dem zweiten Buch, trug er mir den Inhalt eines Kinderbuches aus dem Gedächtnis vor, ohne einzuräumen, dass ich kein Wort seiner ausschweifenden Ausführungen verstand. Einmal angefangen ließ er sich dann aber nicht mehr stoppen und holt ein ums andere seiner Spielzeuge, um mir die Frage "Bu ne?" (Was ist das?) zu stellen und mich dann ausdauernd aufzuklären und mir die Funktionen seiner Autos, Spielfiguren und Kuscheltiere vorzuführen.
Tatsächlich habe ich die meiste Zeit fast nichts verstanden, es sei denn, jemand hat für mich übersetzt. Das übrige Gespräch wurde zu einem Rauschen. Das ist es nun also was bleibt, wenn man von den Familientreffen den Gesprächsinhalt löscht: Ein geselliges Zusammensein, viele Gesichter, laute Stimmen, quietschige, überdrehte Kinder und viel zu viel Essen. So sehr anders als Weihnachten ist es nicht.
Mein Gastbruder Bora hat den Tag treffend zusammengefasst. Im Fahrstuhl auf dem Weg zum Auto und mit glühenden Wangen sah er mich an und meinte auf Englisch: "Every year we are visiting different houses and afterwards we are all very tired."

Samstag, 5. November 2011

Du bist ein Goldfisch!

Goldfische haben eine Gedächtnisspanne von etwa 8 Sekunden. Danach ist alles weg. Wer sich also mal gefragt hat, was zwei Goldfische den ganzen Tag in ihrem Glas machen, bekommt nun endlich eine Antwort auf diese drängende Frage: Sie lernen sich immer wieder aufs neue kennen.
Dies ist der wenig schmeichelhafte Vergleich, den Hidir anbrachte, als er mir gestern einen Crashkurs in der türkischen Sprache gab. Auf dem Programm standen Adjektive, Farben, Tiere, Fragewörter und einfache Grammatik. Ich überzeugte nach kräftiger Kaffeedosis zwar mit Durchhaltevermögen, aber nicht mit meiner Gedächtnisleistung. Noch schlimmer ist meine Aussprache: Nach Hidirs Angaben eine absolute Katastrophe. Ich kann trotz stundenlangem Versuchen kein türkisches R aussprechen (in meinen Ohren klingt das sowieso wie ein Sch, aber wenn ich ein Sch mache, dann schütteln alle ganz entsetzt den Kopf). Noch schlimmer ist die Kombination aus dem r und dem i ohne Punkt. Das auf dem ersten Blick harmlose, weil  kurze Wort für "schwer" - ağır - hat mich schier an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geführt. Und Hidir gleich mit. Seinen Namen kann ich übrigens auch nicht aussprechen. Er meinen aber auch nicht, denn obwohl er es selbst nicht hört, kommt immer ein S anstelle eines X aus seinem Mund. Gleichstand würde ich sagen. 

Heute ist nun Arife - das ist nicht nur der Name meiner Gastmutter, sondern auch die Bezeichnung für den Tag vor einem Feststag. Arifes Vater heißt übrigens Bayram (türkisch für Feststag). Morgen beginnt das viertägige Opferfest. Ich freue mich darauf, das alles mitzuerleben und die Familie und Freunde meiner Gastfamilie zu besuchen. Vielleicht sollte ich heute nichts mehr essen, um in meinem Magen Platz zu schaffen...

Donnerstag, 3. November 2011

Doymuşum - Ich bin satt!

Mein zweiter, langer Tag in Istanbul geht zuende. Hidir hat mir heute die Sultanahmet gezeigt, das Touristenviertel in Istanbul. Auf dem Programm standen die Blaue Moschee, die Hagia Sophia und der Topkapi Palast. Zu sagen, Hidir hat mir etwas gezeigt, trifft den Punkt allerdings nicht ganz. Er lebt erst seit einem Monat in Istanbul und ist mit einem unterirdischen Orientierungssinn gesegnet. Habe selten einen Menschen getroffen, der so zielgenau in die falsche Richtung geht. Er wollte mir alles zeigen, war aber trotz gutem Willen ebenso unwissend wie ich. Immerhin haben wir ein Café gefunden, in dem American Coffee (Filterkaffee) serviert wurde. Meistens bekommt man leider nur Pulverkaffee (Nescafe). Ich habe meine Chance genutzt, zwei Kaffee hintereinander gekippt, woraufhin sowohl ich als auch Hidir einen akuten Koffeinschock erlitten. Wir haben die nächsten drei Stunden nur noch gekichert und als wir uns im Topkapi Palast über die riesigen Juwelen lustig gemacht haben, waren die Blicke der übrigen Besucher gelinde gesagt vernichtend...

Anschließend stand wieder (wieder wieder) Essen auf dem Programm. Meine Gastfamilie ist mit mir Kepab essen gewesen. Die Verständigung klappt immer besser, auch wenn mein Gastvater nur kleine Bröckchen Englisch beherrscht. Sobald ich ein türkisches Wort vor mich hinmurmele sind alle ganz stolz auf mich und betonen, wie klug ich doch bin. Als ich meine neue Handynummer auf türkisch vorgetragen habe, war Arife ganz aus dem Häuschen.
"Doyusum"- ich bin satt, hat sich als wichtige Vokabel ergeben, wird aber geflissentlich ignoriert: Iss! Iss! Iss das auf! Iss!

Mittwoch, 2. November 2011

Ankunft in Kadiköy

Meine Flugangst ist nicht groß, aber latent vorhanden und kommt zum Vorschein, wenn das Flugzeug startet, ruckelt, komische Geräusche macht und landet. Meine anfängliche Nervösität wurde durch die Tatsache, dass mich gleich in Bremen ein Beamter zur Seite gezogen hat, nicht erleichtert. Er hat meinen Rucksack nach Spuren von Sprengstoff untersucht und dazu ein Wattebausch über die Außenseite meines Handgepäcks gezogen. Auf meine Frage: "Schaffe ich meinen Flug denn noch?" reagierte er knapp und kühl mit: "Dann müssen Sie halt früher komme, Sicherheit geht vor." Zu meiner Verteidigung: Das Boarding hatte um 17.50 Uhr begonnen, als der Beamte mich um 18 Uhr aus dem Verkehr zog um meinen Rucksack unter die Lupe zu nehmen. Er schob den Bausch in so etwas wie einen überdimensionalen Lügendetektor und ein weißen Papier erklärte mich und meinen Rucksack für unschuldig. Wie sich dann herausstellte, war ich der letzte Passagier, das ganze Flugzeug wartete auf mich und während mich das Bordpersonal mit einer Mischung aus Gelassenheit und gespielter Freundlichkeit erwartete, stolperte ich nervös durch die Reihen. Natürlich war mein Fensterplatz jetzt belegt und als ich mir einen anderen suchte, wies mich der Stuart (heißen männliche Stuardessen so?) daraufhin, dass ich am Notausgang sitzen würde, erklärte mir in schnellem Englisch die Funktion der Tür und fragte, ob es mir immer noch angenehm sei, hier zu sitzen. Mein zögerliches "Yes, I think so" akzeptierte er als Annahme dieser wichtigen Aufgabe.
Der Rest des Flugs verlief gut und ohne Zwischenfälle. Mein Taxifahrer war sehr nett, zeigte mir die nächtliche Blaue Moschee in Sultanahmet und brachte mich zu meinem Hotel. Kleines Zimmer: Ich brauchte nur die Tür zu öffnen um direkt ins Bett zu fallen.
Am Morgen überraschte mich im Frühstücksraum ein atemberaubender Blick über die Altstadt und den Bosporus. Ich konnte den Blick kaum abwenden. Anschließend wurde ich von Hidir abgeholt, der mich quer durch die Stadt nach Kadiköy fuhr, direkt zur Townhall, der Residenz des Bürgermeisters von Kadiköy, wo meine Gastmutter die Wochenzeitung von Kadiköy produziert. Sie war nicht dort, also ging es direkt weiter zu meiner Arbeitsstelle. Dort wurde dann klar: Statt eine Englischlehrerin bei ihrer Arbeit zu unterstützen (eigentlicher Plan), würde ich die Englischlehrerin sein - schlicht weil es im Augenblick niemanden sonst gibt. Ich unterrichte 8 verschiedene Klassen, 4 Tage die Woche. Und noch spreche ich kein türkisch, was die Kommunikation mit den Schülern erschweren könnte. Und natürlich spricht von den anderen Lehrern niemand Englisch oder Deutsch oder überhaupt eine andere Sprache außer Türkisch.

Danach habe ich Arife, meine Gastmutter, kennengelernt. Wir sind Essen gewesen (cok güzel - sehr lecker) und dann hat sie mich durch die ganze Townhall geführt und etwa 30 Leuten gesagt: "Das ist sie! Sie ist da", weil sie schon seit Wochen auf mich gewartet hat und das auch alle Mitarbeiter wussten und ich musste dann über 30 Hände schütteln und mir gefühlte hundert Namen merken. Dann war ich mitten im Geschehen: Es wurden zwei Geburtstage gefeiert (wieder essen) und die Schwangerschaft der Chefin (mit einem türkischen Tanz mitten in ihrem Büro).

Noch ein Kommentar zu Van: Die Erdbebenkatastrophe wird hier deutlich sichtbar, denn die ganze Townhall ist gestappelt voll mit Hilfslieferungen, die von Freiwilligen verpackt werden. Morgen steht Kinderspielzeug auf dem Plan.

Anschließend habe ich Arifes Sohn und Mann kennengelernt und wieder - na? - gegessen. Dabei habe gleich den Ausdruck für Behaarlichkeit gelernt: "israr etmek" - Türken wollen dich immer zum Essen bringen und sind dabei äußerst behaarlich. Das türkische Pendant zu "Wenn du nicht aufisst, wird das Wetter morgen schlecht" ist: "Wenn du nicht aufisst, werde ich weinen". Meterologischer vs. emotionaler Druck. Musste dann auch Hidir versprechen, nicht zu viel zu essen- "because otherwhise you'll get fat".

Weitere Eindrücke und Erlebnisse aus der Stadt am Bosporus folgen bald!