Mittwoch, 8. Februar 2012

Langschläfer

Ein bisschen verspätet, weil schon drei Monate hier und bis dato mit der Stadt alleingelassen, lese ich im Augenblick “Gebrauchsanweisung für Istanbul”, von Kai Strittmatter. Das Buch vereint treffende Beschreibungen der Stadt und seiner Bewohner mit interessanten Hintergrundinformationen – und ist zudem auch noch sehr unterhaltsam. Die Passage über das alltägliche Verkehrschaos ist so komisch (und zugleich so treffend), dass ich im Minibus lauthals loslachen musste – und mich alle Insassen verwirrt angestarrt haben. Menschen, die grundlos lachen (zumal weder mit Handy am Ohr, sondern lediglich mit der Nase im Buch), haben ja schon etwas Verschrobenes an sich…
Das Buch füttert mich nun also mit nützlichen Informationen und das ein ums andere Mal geht mit nach der Lektüre plötzlich ein Licht auf. Strittmatter belegt in einem Kapitel sehr anschaulich die Aversion der Türken gegenüber Stadtplänen und beschreibt dessen Orientierungssystem, das von Bezugspunkten abhängig ist (anstelle von „dritte Straße rechts“ besser: „hinter dem großen roten Haus einbiegen“). Und schwupps sehe ich meine Diskussion mit Istanbuler Taxifahrern in einem anderen Licht. Einem von ihnen hatte ich einmal eine Karte unter die Nase gehalten, dick rot eingekreist darauf: unser Ziel. Er hat sich trotzdem verfahren und der Karte keine Beachtung geschenkt. 
Taxifahrer, die den Weg nicht kennen, fahren denn trotzdem erst mal los und telefonieren während der Fahrt ihren Kollegen hinterher, bis einer den Weg erklären kann. Auch das ist nicht immer ein Garant dafür, dass man ankommt wo man hinwill. Kein Türke gibt freiwillig zu, den Weg nicht zu kennen. Es ist stattdessen üblich, den Fragenden in die ungefähre Richtung zu schicken. Man will ja schließlich helfen…

Über das Stadtteil, in dem ich arbeite, schreibt der Autor vor dem Hintergrund der extremen Diskrepanz zwischen arm und reich einige Sätze. Es sei eines der ärmsten Stadtteile Istanbuls steht dort. Fikirtepe heißt die Gegend und liegt auf der asiatischen Seite im Stadtgebiet von Kadıköy. Wie arm die Kinder hier tatsächlich sind, das fällt auf den ersten Blick nicht auf. Die Schule ist gut ausgestattet, mit neuesten Computern, einer stetig wachsenden Bücherei und auch ich schreibe im Unterricht auf einer modernen Multimedia-Tafel (die sich allerdings gegen mich verschworen zu haben scheint und ständig den Dienst verweigert). Doch dann sieht man sich die Kinder an, sieht alte Kleidung mit grob geflickten Löchern und Plastiktüten anstelle von Tornistern. Und die Mütter, die ich bisher kennengelernt habe, tragen ausnahmslos Kopftuch. Die Häuser rund um die Schule wirken nicht selten wie behelfsmäßige Verschläge, mehr schlecht als recht mit kaputten Dachziegeln gedeckt und ich kann nur erahnen, wie kalt der Winter der letzten Wochen in den schlecht isolierten Häusern gewesen sein muss.
Ein Junge fällt mir besonders auf, obwohl er keiner meiner Schüler ist. Unser Essen bringt ein kleiner Imbiss von gegenüber, der für wenig Lira ein Tagesgericht anbietet. Der Sohn des Inhabers bringt es herüber, trägt das Tablett mit Tellern und Besteck ins Lehrerzimmer und holt das dreckige Geschirr und das Geld später wieder ab. Er ist ein niedlicher, schüchterner Junge; immer mit geröteten Wangen, der leise grüßt, wenn er mich sieht. Von meinem Fenster aus, sehe ich ihn den ganzen Tag über den Platz vor unser Schule laufen; sehe wie er Çay und Essen ausliefert und ich frage mich: Geht dieser Junge überhaupt zur Schule? Oder muss er den ganzen Tag im Imbiss seines Vaters arbeiten?

Die Türken sind übrigens ein Volk von Langschläfern, sagt Strittmatter. Rush Hour ist hier nicht in den frühen Morgenstunden, wie etwa in Deutschland. Das größte Stauaufkommen ist etwa zwischen neun und zehn Uhr – und das sagt schon einiges über die Aufstehgewohnheiten der Istanbuler aus. Wenn gegen halb zehn meine Kollegen auf der Arbeit eintreffen, dann wird erst einmal in Ruhe gefrühstückt – selbst wenn die Schüler mal eben zehn Minuten auf den Unterricht warten müssen. Und jetzt wo die Ferien vorbei sind und die Klassen leerer als vor den freien Tagen, liefert das ausgeprägte Schlafbedürfnis auch gleich die Erklärung für die hohe Fluktuation. Mein Kollege Burak meinte: „Ich glaube, die Kinder haben in der freien Zeit Gefallen am lange Schlafen gefunden. Jetzt schaffen sie es nicht mehr, früh aufzustehen.“ Das war allerdings kein Scherz von ihm, sondern ein ernstgemeinter Verdacht. In der Vergangenheit kam bereits eine Mutter auf ihn zu und meinte, ihr Kind würde nicht mehr kommen – es würde jetzt lieber lange schlafen.

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