Freitag, 11. November 2011

Der tote Mann

Gestern war der 73. Todestag des Staatsgründers der Türkei - Mustafa Kemal Atatürk. Jedes Jahr am 10. November wird seiner gedacht und aus diesem Grund pilgern hundertausende Türken zu seiner Grabanlage in Ankara. Dieses Jahr war ich dabei.

Also Dankeschön für ihren Einsatz bei der Organisation von Hilfsgütern für das Erdbebengebiet um Van hat der Chef meiner Gastmutter, der Bürgermeister von Kadiköy, allen freiwlligen Helfern ein Bahnticket nach Ankara spendiert. Ich durfte mitfahren und die Freuden einer achtstündigen Nachtbahnfahrt erkunden: 50 Jugendliche in zwei Bahnabteilen, die in unmöglichen Schlafpositionen versuchen, irgendwie die Nacht hinter sich zu bringen. Für mich war die erste Reise durch die Türkei und ich hatte die Möglichkeit Landschaften außerhalbs Istanbul kennenzulernen. Bei Sonnenaufgang konnte ich eine felsige, karge, fast wüstenartige Landschaft bewundern, gesprengelt mit zerfallenen Hütten, kleinen Dörfern und großen Städten, deren Skyline sich gegen die Morgensonne abzeichneten.  

Am Ausgang des Bahnhofs wurden Buttons mit dem Foto von Atatürk und seiner Lebenszeit 1881-1938 (wobei die 8 gekippt war und das Zeichen für unendlich darstellte) verkauft. Ich dachte: "Den muss ich doch nicht auch tragen oder?"- aber da wurde mir schon ein Button in die Hand gedrückt.
Atatürk hat großartige Leistungen für die Türkei erbracht: Er hat das Land demokratisiert und modernisiert, dabei unter anderem das Sultanat und Kalifat abgeschafft, das lateinische Alphabet eingeführt und die Gleichberechtigung von Mann und Frau gestärkt. Sein Name "Atatürk", der ihm 1934 durch das türkischen Parlament verliehen wurde und einzig von ihm getragen werden darf, zeugt von der Verehrung, die ihm entgegengebracht wird. Er bedeutet "Vater aller Türken". In jedem Laden, jeder Schule, jedem öffentlichen Bebäude und der Mehrheit aller Wohnungen lässt sich ein Foto des Staatsgründers wiederfinden.
Ungeachtet all seiner Leistungen, fällt es mir schwer, den Personenkult um Atatürk nachzuvollziehen. Ich möchte versuchen, möglichst neutral und frei von Sarkasmus über meinen Besuch in Anatkabir (so heißt die Grabanlage Atatürks) zu berichten. Mein mulmiges Bauchgefühl gegenüber Personenkult jeglicher Art, konnte ich ohnehin niemandem so recht begreiflich machen. Ich verwies meine Begleitung auf einen Besuchers, der ganz in Beerdigungkluft gekommen war und passend dazu eine Krawatte mit dem Anltlitz Atatürks trug, was mir ein bisschen übertrieben schien. Mit einer Prise Ironie sagte ich: "Er scheint aber ein großer Fan von Atatürk zu sein", woraufhin meine Gesprächspartnerin entwaffnend aufrichtig erwiderte: "Ich auch. Du denn nicht?" 

Die Grabanlage befindet sich eingebetet in einem großen Park und während Politiker das Grab besuchten, wartete ich gemeinsam mit den übrigen Besuchern in einer rieisgen Menschenmasse vor dem Eingang - 181.000 Menschen kamen gestern nach Anitkabir um Atatürk zu gedenken. Flaggen wurden verteilt, bis jeder einer Din-A4 große Fahne in Nationalfarbe zum Mitweddeln in der Hand hielt. Und dann war es 09.05 Uhr und alles verharrte schweigend still, selbst die Autos auf den Straßen hielten - schwiegen allerdings nicht, sondern hupten laut. Jedes Jahr wird zur Todeszeit Atatürks 5 Minuten geschwiegen. Ich wusste das nicht, doch stimmte ganz automatisch in das Innehalten ein. 
Dann durften wir hinein und liefen eine lange Straße hinauf. Anschließend passierten wir einen kleinen Hof mit steinernden Statuen, die ausladende "Löwenstraße" und kamen zu einem großen Platz, auf dessen linker Seite sich das Mausoleum in den Himmel erhob. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Fahnenmast, deren Natioanlflagge zu Zeichen der Trauer immer auf Halbmast hängt. Aus Lausprechern schall Atatürks Stimme, die bekannte Reden vortrug. Das Mausoleum selbst erinnerte an eine Kirche: Hohe Decken, marmorner Boden und prunkvolle Goldverzierungen. An der Ostseite ist ein großer Sarkopharg gen Mekka gerichtet. Atatürk selbst liegt in einer Grabkammer unter der Erde. An den Wänden sind zwei seiner Reden in Stein gehauen. 
In einem weiteren Gebäude befindet sich ein kleines Museum mit Erinnerungsstücken von Atatürk, Wachsfiguren von ihm und Darstellungen der Kriege, die die Türkei bis zur Staatsgründung gewinnen mussten. 

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Türken eine andere Eintsellung zu Nationalismus haben, als Deutsche. Und die Nationalflagge, sowie die Nationalsymbole Mond und Stern sind aus dem Straßenbild praktisch nicht wegzudenken. Ich denke denn auch, dass sich der 10. November als Nationalfeiertag verstehen lässt, an dem die Türken dem Menschen danken, der die Entstehung der Türkei in seiner jetzigen Form ermöglicht hat. Trotz meinem Unverständnis bin ich mir durchaus der Wichtigkeit des Ereignisses bewusst. Eine Mädchen, mit dem ich zusammen dort war, brach vor Rührung in Tränen aus und am Abend bedankte sich der Kellner im Café dafür, dass ich in Anitkabir gewesen bin und Atatürk besucht habe.

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