Sonntag, 13. November 2011

Kopftuchmädchen

Dies ist mein letzter Abend in meiner Gastfamilie. Neben mir steht mein gepackter Reiserucksack, den ich mir morgen früh wieder auf den Rücken hieven werde. Als kleiner Abschied war ich mit meiner Gastfamilie in einem traditionellen Restaurant essen, in dem osmanische Küche serviert wird. Der niedrige Tisch bestand aus einer goldenen, reich verzierten, kreisrunden Platte, die wie ein riesiges Tablett aussah. Gesessen wurde auf niedrigen, samtbeschlagenen Hockern. An den Wänden prangten osmanische Verzierungen, während ein historischer Kamin alle Blicke auf sich zog. 
Während des Essens macht Arife mich darauf aufmerksam, dass an den Nebentischen gleich mehrere frisch verheiratete Bräute in weiten Abendkleidern saßen. Sie alle trugen, ebenso wie ihre weiblichen Gäste, Kopftücher. Allerdings in ihrer Feiertagsversion, mit reicher Pailettenverzierung, Strasssteinchen und Stoffblumen. In einigen Gesprächen ist mir bereits aufgefallen, dass meine Familie durchaus religionskritisch ist. Sie sind am Bayram nicht in die Moschee gegangen und haben auch kein Tier geschlachtet. Arife trägt kein Kopftuch, auch sonst keine der Frauen in der großen Familie meiner Gasteltern. Im Gegenteil: Kopftuchtragende Frauen lösen in ihnen Ablehnung aus. Und sie beobachten aktuelle gesellschaftliche Veränderungen kritisch: Der derzeitige Präsident der Türkei, Erdogan, ist der Vorsitzende der AKP Partei, die als islamnah gilt. Arife hat mir erzählt, dass erst vor kurzer Zeit die Alkoholsteuer drastisch erhöht wurde - wohl auch um den Alkoholkonsum zu reduzieren, der laut dem Koran allen Muslimen verboten ist. Die meisten Türken, die ich bisher getroffen habe, äußern sich kritisch gegenüber Erdogan und einer Politik, die sie als religiös geprägt und damit rückschrittlich empfinden. 
Arife äußerte denn auch die Vermutung, dass es sich um Ehen handelt, die von den Familien der Brautpaare arrangiert wurden. Eine Vermutung, die ich mit Blick auf die unglücklichen Gesichter der Mädchen durchaus geteilt habe - wobei Arife mich darauf verwies, dass lächelnde, glückliche Frauen nach konservativen Vorstellung ein schamhaftes Benehmen an den Tag legen. Eine gute Braut lächelt nicht. Eine gute Braut trägt außerdem einen roten Gürtel über dem weißen Brautkleid um damit zu symbolisieren, dass sie als als Jungfrau in die Ehe geht. 

Nach dem Essen sind wir bei stürmischen Wetter auf der Anhöhe neben dem Restaurant entlang gelaufen und haben mit einem Becher Sitap (ein heißes Getränk, dass schmeckt wie flüssiger Vanillepudding) in der Hand die beeindruckende Skyline von Istanbul bewundert. Nachts verwandelt sich das Häusermeer in eine Glitzermeer von Lichtern, dass kein Ende zu nehmen scheint. Istanbul ist einfach unvorstellbar groß - und sehr häufig auch unvorstellbar schön.


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