Ein großer Teil meines Tages besteht in dem Versuch, möglichst ohne Irrungen von Punkt A zu Punkt B zu gelangen. Das bedeutet, den richtigen Bus, Minibus und Zug zu finden und dann auch irgendwie die richtige Haltestelle. Auch an meinem zweiten Tag habe ich mich verfahren, habe den falschen Bus genommen und bin zu früh ausgestiegen. So konnte ich in den Genuss meiner ersten alleinigen Fahrt mit einem Minibus kommen. Wenn sie nicht überfüllt sind, wohnt ihnen eine heimelige Atmosphäre inne. Ein wenig erinnert es an eine urige Fahrgemeinschaft. Sitzplätze gibt es für etwa 20 Menschen. Der Busfahrer ist Kassierer, Fahrer und Infoschalter in einem. Meinen 20-Lira-Schein wechselte er, indem er sich während der Fahrt sein Portemonnaie aus der Jackentasche zog, mit der anderen lenkte, dann die Arme tauschte und mit der rechten Hand mein Kleingeld aus kleinen Schälchen zusammensuchte. Und das im bereits beschriebenen Istanbuler Straßenverkehr. Das ist mal eine Nummer, mit der er sich bei „Das Supertalent“ bewerben sollte.
Durch meinen Umweg musste ich an der Marmara Universität entlang durch eine Wohngegend laufen. Mein Unvermögen, den richtigen Bus zu nehmen, führte dazu, dass ich den freitäglichen Wochenmarkt in der Mektep Straße erleben zu können: Kunstvoll gestapeltes Obst und Gemüse, Tücher, Kleider und Gewürze. Besonders schön war der Gedanke, dass ich im richtigen Istanbul angekommen war. Es war keine Szenerie, wie auf den Fotografien handelsüblicher Reisekataloge, sondern richtig echter Alltag.
Am Abend konnte ich im überfüllten Zug dann wieder die Schwarmbewegungen erkennen, die entstehen, wenn sich immer mehr Menschen in ein bereits überfülltes Gefährt drängen. Die Überlegungen gleichen einem Tetrisspiel: Wie weit kann ich meinen Fuß verlagern, ohne dass ich beim nächsten Fahrmanöver das Gleichgewicht verliere? Ich dachte vorher, dass ich niemals die Halteschlaufen im öffentlichen Nachverkehr benutzen würde. Sie sind für meine (kurzen) Arme zu weit oben angebracht und ohnehin von geringem Nutzen, denn man muss weiterhin kleine Kreise gehen, um nicht umzukippen. In meinem Abendzug habe ich keine andere Wahl mehr, denn Haltestangen sind in dem Gewühl schlicht unerreichbar. Ganz ungefährlich ist die Heimreise außerdem nicht – die Ellenbogen bedeutend längerer Arme schweben auf meiner Gesichtshöhe und nähern sich in Abständen bedrohlich meinem Gesichtsfeld.
Mein Türkisch wird allmählich etwas besser. Auf meiner Arbeit spricht nur Burak Englisch, so dass ich mit allen anderen schwierige Halbsatz-Wort-Gespräche führe. Ebenso mit den Kindern. Burak hat mir die Frage „Darf ich auf Toilette gehen?“ aufgeschrieben. Nachdem mich einige Kinder gefragt und ich sie nicht verstanden hatte, waren sie aus verständlichen Gründen dazu übergegangen, die Frage an Burak zu richten. Ich freue mich darauf, dass mein Türkisch gut genug ist, um den Leuten Fragen zu stellen. Es gibt so vieles, das mich interessieren würde. Noch mit meiner ersten Familie habe ich eine Dokumentation über türkische Immigranten in Deutschland gesehen. Aus dem Gespräch hat sich ein Gespräch mit meiner Gastmutter ergeben, dass ich gerne mit anderen Türken fortsetzen würde.
Damit mein Türkisch besser wird, hat mir Ata seine Lesebücher aus den ersten Schuljahren geliehen. Das türkische Pendant zu „Hänsel und Gretel“ ist übrigens „Ali und Aysecik“.
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